Am Mittwochmorgen, 22. November 1995 steigt die 18-jährige Rajeswari am Bahnhof der Stadt Arakkonam im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu aus dem Zug, um zu Fuss zu ihrer Schule zu gehen.[FN1 Die Gerichtsdokumentation zu diesem Fall ist auf der Plattform Indian Kanoon einsehbar.] Trotz des Regenmonats bleibt der Regen heute aus, und die Temperaturen bewegen sich um die 25 Grad. Rajeswari lebt im rund 100 Kilometer entfernten Dorf Cheeyur Colony und gehört einer sogenannten «Scheduled Caste» an, einer sozial benachteiligten Gruppe am unteren Ende des Kastensystems. Ihr Vater ist Landarbeiter. Die junge Frau bemüht sich um einen Bildungsaufstieg, ist eine gute Schülerin und besucht das Gymnasium.
Auf dem Weg zur Schule wird sie von einem Mann namens Velayutham, den sie aus ihrem Dorf kennt, zu einem nahegelegenen, mit Ziegeln gedeckten Haus gelockt und eingesperrt. Am nächsten Tag bringt er sie via Bahnhof Arakkonam an verschiedene Orte. Da er sie ständig bedroht, kann sie nicht flüchten. Am Freitag 24. November 1995 bringt Velayutham sie nach Madras (heute Chennai) in den Stadtteil Ramapuram. Hier hat er viele Freunde, von denen die meisten als Schmuggler arbeiten und illegalen Arrak destillieren und verkaufen. In der Nacht auf Samstag vergewaltigt er sie ein erstes Mal. Danach bringt er sie über Wochen hinweg in verschiedene Vororte von Madras und vergewaltigt sie immer wieder. Am 2. Februar 1996, mehr als zwei Monate nach der Entführung bringt Velayutham sie zusammen mit seinen Komplizen gewaltsam zu einem nahegelegenen Tempel, wo er ihr unter Drohungen und gegen ihren Willen ein «Thali» um den Hals bindet: Mit dem Anlegen dieses gelben Fadenbands vollzieht er die Ehe mit ihr. Aus Angst um ihr Leben kann sich Rajeswari nicht dagegen wehren. Fünf Tage später beginnt Velayutham, sie von einem seiner Freunde und von seinem Schwager vergewaltigen zu lassen. Velayutham hält während den Vergewaltigungen vor dem jeweiligen Raum Wache oder befindet sich im Raum, um Fotos zu machen. Ein weiterer Monat vergeht, in welchem Rajeswari ihren Peinigern nicht entkommen kann. Velayutham hat vor, sie weiterhin als Prostiutierte anzubieten und droht ihr, sie zu ermorden, falls sie sich ihm nicht fügt.
Mehr als drei Monate nach ihrer Entführung gelingt Rajeswari am 4. März 1996 vormittags schliesslich die Flucht. Mit dem Bus gelangt sie zurück zu ihren Eltern. Unmittelbar danach wendet sie sich an die lokale Polizei, die jedoch nichts unternimmt, was sie schockiert und konsterniert. Es ist in diesen ersten Tagen nach ihrer Flucht, als sie realisiert, dass sie schwanger ist. Rajeswari und ihre Eltern geben nicht auf. Nach zahlreichen Versuchen bei verschiedenen Polizeiposten nimmt ein ranghoher Polizeibeamter den Fall rund 14 Tage nach der geglückten Flucht schliesslich auf. Aber es vergeht eine weitere Woche bis zur Vorsprache.
Während sich die Polizei nun doch um die Täterschaft kümmert, wendet sich die junge Frau an den Madras High Court, um die Erlaubnis für einen Schwangerschaftsabbruch zu erhalten. Sie bittet um den Erlass einer Anordnung zum Abbruch der Schwangerschaft mit der Begründung, dass die Schwangerschaft durch eine Vergewaltigung zustande gekommen sei und sie psychisch krank mache. Die Bewegungen ihres Kindes zu spüren, bereite ihr grosse seelischen Qualen.
Gemäss damaligem indischen Gesetz benötigen minderjährige Frauen für eine Abtreibung die Zustimmung des Vaters, volljährige Frauen jedoch die des Ehemannes. Rajeswari ist volljährig, aber unverheiratet, und so fehlt ihr der männliche Entscheidungsbefugte. Unverheiratet schwangeren Frauen ist eine Abtreibung nur erlaubt, wenn sie durch eine Vergewaltigung entstanden ist. Diese muss die Frau jedoch beweisen können. Am 24. Mai 1996 wird ihr Fall schliesslich im Madras High Court verhandelt. Rajeswari ist zwischenzeitlich seit 18 Wochen schwanger.
https://peterzirnis.com/post/31931359150/satyameva-jayate-bollywood-and-mithila-art
Family Planning
Seit 1971 – und somit 30 Jahre früher als in der Schweiz – ist es Frauen in Indien grundsätzlich erlaubt, ihre Schwangerschaft zu beenden. Mit dem «Medical Termination of Pregnancy (MTP) Act»[FN2 https://prsindia.org/files/bills_acts/bills_parliament/2020/Medical%20Termination%20of%20Pregnancy%20Act,%201971.pdf] (1971) wurde in Indien der Schwangerschaftsabbruch verheirateter Frauen legalisiert: bis zur 12. Schwangerschaftswoche mit einer Fachmeinung und bis zur 20. Schwangerschaftswoche[FN3 Zum Vergleich: In der Schweiz ist die Abtreibung seit einer Volksabstimmung 2002 bis zur 12. Schwangerschaftswoche allen Frauen erlaubt (die sogenannte «Fristenregelung»).] mit zwei Fachmeinungen.[FN4 Immer wieder begegneten Andrea Abraham in der Datenerhebung auch Erzählungen von induzierten Frühgeburten bzw. Spätabbrüchen. Bei manchen dieser Spätabbrüche kam es trotz unterlassener medizinischer Hilfestellung zum Überleben der Kinder. Hierbei handelt es sich nicht um genau dasselbe: Bei einer induzierten Frühgeburt ging es beispielsweise um den Wunsch der Frauen, nach dem Spitaleintritt möglichst schnell wieder in ihre Herkunftsdörfer zurückzukehren. Die Geburt wurde dabei mit wehenfördernden Mitteln herbeigeführt. Bei einem Spätabbruch kam es hingegen zu einer aktiven Tötung des Fötus.]
Gründe für eine Abtreibung waren zwischen den 1970er und 2000er Jahren vielfältig. Innerhalb von Eheverhältnissen trieben Frauen ab, weil sie bereits zu viele Kinder hatten, weil die Schwangerschaft zu früh nach der letzten Geburt stand, wegen gesundheitlichen Gründen oder wegen des weiblichen Geschlechts des Kindes.[FN5 Bandewar, S. (2003). Abortion Services and Providers’ Perceptions: Gender Dimensions. Economic and Political Weekly, 38 (21),2075–2081. / Barua, A., Waghmare, R., & Venkiteswaran, S. (2003). Implementing Reproductive and Child Health Services in Rural Maharashtra, India: A Pragmatic Approach. Reproductive Health Matters,11 (21),140–149. / Gupte, M., Bandewar, S., & Pisal, H. (1997). Abortion needs of women in India: A case study of rural Maharashtra. Reproductive Health Matters,5 (9),77–86.] Ausserhalb eines Eheverhältnisses trieben Frauen ab, weil die Schwangerschaft aus einer gesellschaftlich unmöglichen Liebesbeziehung rührte, weil die Liebesbeziehung zwar gesellschaftlich anerkannt aber der voreheliche Geschlechtsverkehr inakzeptabel war, oder weil die Frau aufgrund einer Vergewaltigung schwanger wurde – wie im Fall von Rajeswari. Abgetrieben haben Frauen, weil sie wollten, weil sie mussten oder weil sie dazu genötigt wurden.
https://www.reddit.com/r/indianews/comments/vk9ezi/1970s_advertisement_in_india_highlighting/
Der MTP Act stand in einem Zusammenhang mit der staatlichen Bevölkerungskontrolle der seit den 1960er Jahren schnell wachsenden indischen Gesellschaft. Als wachstumsbremsende Massnahme standen in den 1970er bis 2000er Jahren im Bundestaat Maharashtra Verhütungsmittel beispielsweise kostenlos zur Verfügung. Sie wurden jedoch nicht so breit genutzt wie von staatlicher Seite erhofft. Staatliche Abtreibungskliniken führten Abtreibungen kostenlos durch, übten auf die aufsuchenden Frauen jedoch grossen Druck aus, danach permanente Verhütungsmittel zu nehmen oder sich sterilisieren zu lassen. Im privaten und im illegalen Sektor bestand dieser Druck nicht, aber die Abtreibung war an teils hohe Kosten geknüpft.[FN9 Gupte, M., Bandewar, S., & Pisal, H. (1997). Abortion needs of women in India: A case study of rural Maharashtra. Reproductive Health Matters,5 (9),77–86.]
Die Popularität der Abtreibung war somit eingebettet in die nationalen Massnahmen zur Reduktion der Bevölkerung, welche mit dem nationalen Ausnahmezustand «The Emergency» (1975-1977) ihren folgenreichen Höhepunkt nahm: Unter der Premierministerin Indira Gandhi kam es in dieser Phase zu landesweiten Zwangssterilisationen von Männern und Frauen[FN10 Der Film “Something like war” (1991) der indischen Filmemacherin Deepa Dhanraj dokumentiert die staatlichen Eingriffe in die Familienplanung, die bis zu erzwungenen Sterilisationen von Frauen und Männern führten.], die Indira Gandhi in einer Rede am 22. Januar 1976 als gesellschaftliche Notwendigkeit vehement verteidigte:
«We must now act decisively and bring down the birth rate speedily. We should not hesitate to take steps which might be described as drastic. Some personal rights have to be kept in abeyance, for the human right of the nation, the right to live, the right to progress.»
Im Nachgang zu diesen staatlichen Zwangsmassnahmen entwickelte sich ein nicht minder vehementer feministischer Gegendiskurs um reproduktive Selbstbestimmung. Aus indisch-feministischer Perspektive wurde die Abtreibung als Massnahme gegen eine ungewollte Schwangerschaft unterstützt. Dies galt für alle Frauen und insbesondere für Mädchen und Frauen wie Rajeswari, die aufgrund einer Vergewaltigung unehelich schwanger geworden waren. Pritha Somnath (Name geändert)[FN12 Andrea Abraham und Asha Narayan Iyer haben Pritha Somnath Ende März 2023 in Mumbai interviewt.], Sozialarbeiterin im Bundesstaat Maharashtra, erinnert sich an ihre Arbeit in den 1990er Jahren mit minderjährigen Schwangeren:
«Wenn die Möglichkeit einer Abtreibung bestand, gingen wir nicht einmal zuerst in einen Shelter [Institutionfür notleidende Frauen und Kinder], sondern organisierten es selbst. Denn aus feministischer Sicht wollen wir nicht, dass jemand anderes uns dazu überredet, ein Kind zu bekommen. Dass ein Kind ein Kind bekommt, ist an sich schon ein problematisches Konzept. Wir haben direkt mit den Eltern und mit dem Krankenhaus zusammengearbeitet.»
Grosse Hürden für unehelich schwangere Frauen
Die Einschränkungen des MTP Act erschwerten oder verunmöglichten unverheiratet schwangeren Frauen den Zugang zu Abtreibungskliniken. Pritha Somnath erinnert sich:
«In Indien brauchte jede Frau, die eine Abtreibung vornehmen lassen wollte, die Zustimmung ihres Mannes. Und was ist, wenn man keinen Ehemann hat? Wenn dein Freund nicht bereit ist, sich als Ehemann auszugeben, was wirst du dann tun? Die Frauen waren so hilflos. Sie wussten nicht, was sie mit ihrem Körper machen sollten. Die Illegalität bestand darin, dass sie niemanden hatten, der für sie unterschreibt. Wenn man nur eine Woche über den 12 Wochen ist, wird niemand [kein Arzt, keine Ärztin] das Risiko eingehen, es in einem staatlichen Krankenhaus zu tun. Aber in einem Zentrum werden sie es tun, auch wenn es eine Woche mehr ist.»
Auch eine Studie zu Abtreibungen im Bundesstaat Maharashtra[FN13 Bandewar, S. (2003). Abortion Services and Providers’ Perceptions: Gender Dimensions. Economic and Political Weekly,38 (21),2075–2081.] zeigt, dass längst nicht alle Ärzte bereit waren, bei unehelich schwangeren Frauen eine Abtreibung durchzuführen. Sie fürchteten soziale Sanktionen, weil sie eine Frau mit einer als illegitim geltenden Schwangerschaft geholfen hatten. So weigerten sich 113 der 130 befragten Ärzte, bei diesen Frauen eine Abtreibung durchzuführen, falls sie ohne einen gesetzlichen Entscheidungsbefugten (Vormund) in die Praxis kamen oder falls keine Unterschrift des Vormunds vorlag. Dies – gepaart mit den begrenzt vorhandenen Möglichkeiten in ruralen Gebieten – erschwerte manchen Frauen die Abtreibung und zwang sie in illegale Abtreibungsklinken.[FN14 Ganatra,B., & Hirve, S. (2002). Induced Abortions among Adolescent Women in Rural Maharashtra, India. Reproductive Health Matters,10 (19),76–85. / Saha, S., Duggal, R., & Mishra, M. (2004). Abortion in Maharashtra: Incidence, Care and Cost. CEHAT.] Oftmals war ihre Schwangerschaft bereits sehr fortgeschritten. Manche Kliniken passten den Preis für die Abtreibung der Anzahl Schwangerschaftswochen an.[FN15 Gupte, M.,Bandewar, S., & Pisal, H. (1997). Abortion needs of women in India: A case study of rural Maharashtra. Reproductive Health Matters,5 (9),77–86. ] Obschon diese illegalen Kliniken viele Frauen aus ihrer sozialen Not befreiten, setzten sich die Frauen in diesen unterschiedlich professionell arbeitenden Kliniken gesundheitlichen Gefahren aus oder riskierten sogar den Tod. Zudem führten misslungene Abtreibungen auch zu negativen gesundheitlichen Auswirkungen für die überlebenden Kinder.[FN16 Dabir, N. (1994). Astudy of a shelter home for women in distress. Bombay: SNDT Womens University. / Visaria,L., Ramachandran, V., Ganatra, B., & Kalyanwala, S. (2004). Abortion in India: Emerging Issues from Qualitative Studies. Economic and Political Weekly, 39 (46/47),5044–5052.]
Zurück zu Rajeswari
Als Rajeswaris Fall am 24. Mai 1996 im Madras High Court verhandelt wird, drängt die Zeit: Sie ist zwischenzeitlich seit 18 Wochen schwanger. Auch mit einer bewiesenen Vergewaltigung bleiben ihr somit nur noch zwei Wochen, in denen zwei Ärzt*innen die Schwangerschaftsumstände einschätzen, die Abtreibung gutheissen und durchführen müssen. Weil die Täter geständig sind und Rajeswari mit der Schwangerschaft unter einer psychischen Belastung steht, die als unzumutbar eingeschätzt wird, entscheidet das Gericht zu Gunsten der jungen Frau: Sie darf sich noch am gleichen Tag für die Abtreibung an ein Spital wenden.