Die ersten Kinder, die aus Indien zur Adoption in die Schweiz kamen, stammten aus Tibet. Nach der chinesischen Invasion 1959 waren sie mit ihren Angehörigen nach dem indischen Dharamsala geflüchtet und wurden zu Beginn der 1960er-Jahre an Familien in der Schweiz vermittelt. Dies geschah auf Initiative des Schweizer Elektroingenieurs Charles Aeschimann, der in der Aare-Tessin Aktiengesellschaft für Elektrizität (Atel) in Olten in führender Position tätig war.[FN1 https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/046708/2001-03-12/, Abruf 20.5.2024.] Er hatte mithilfe befreundeter Alpinisten und Himalaya-Kenner den Dalai Lama im Exil kontaktiert und mit dem tibetischen Oberhaupt eine Vereinbarung getroffen: 160 tibetische Mädchen und Knaben sollten in der Schweiz aufwachsen. Der Dalai Lama wünschte, dass sie als gut ausgebildete junge Erwachsene später in ihre Heimat zurückkehren. Sein Plan ging jedoch nicht auf, denn die «Tibeterli», die zwischen 1961 und 1964 mit der «Aktion Aeschimann» in die Schweiz kamen, wurden hier adoptiert.[FN2 Sabine Bitter und Nathalie Nad-Abonji: Tibetische Kinder für Schweizer Familien. Die Aktion Aeschimann. Zürich 2018.]
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«Kleine Gäste» zur Adoption
Auch Terre des hommes begann damals indische Kinder zur Adoption in die Schweiz zu bringen.[FN3 Schreiben von Terre des hommes in Lausanne an Forschungsteam, 9.1.2023.] Das von Edmond Kaiser 1960 in Lausanne gegründete Hilfswerk war in der internationalen Adoptionsvermittlung einer der wichtigsten Akteure, wie die eidgenössische Fremdenpolizei 1975 festhielt: «Seit 1961 bis heute hat die Fremdenpolizei 1650 Kinder aus 45 verschiedenen Ländern bewilligt […]. Von den 1650 kleinen Gästen wurden 1220 von Terre des hommes vermittelt.»[FN4 BAR E4300-C01#1998/299#610*, Referat eines Mitarbeiters der eidg. Fremdenpolizei an einer Tagung der Schweizerischen Landeskonferenz für Sozialwesen am 12.5.1975 in Bern.]
Das international agierende Hilfswerk arbeitete in Indien jahrzehntelang mit dem ebenfalls weltweit tätigen Orden von Mutter Teresa, den Missionarinnen der Nächstenliebe, zusammen. In Indien betrieb der Orden zahlreiche Heime, etwa in Amravati, Neu-Delhi, Bombay und Kalkutta (heute Mumbai und Kolkata).
Diese Institutionen waren von den indischen Behörden als offizielle Adoptionsvermittlungsstellen, als Agencys, lizensiert. Die Missionarinnen der Nächstenliebe spielten bei der Adoptionsvermittlung aus Indien für die Schweiz eine zentrale Rolle, wie aus Zürcher und Thurgauer Adoptionsakten hervorgeht. Mit dem Mutter Teresa-Heim in Kalkutta arbeitete Terre des hommes in Lausanne über seinen Projektverantwortlichen in Indien besonders eng zusammen, mit Milton McCann von Terre des hommes (India) Society .
Schweizerin mit «Rettungsheim» in Bombay
Eine weitere Schweizer Akteurin in der Adoptionsvermittlung fasste ebenfalls bereits in den 1960er-Jahren in Indien Fuss: Die in der Schweiz aufgewachsene Alice Khan-Meier stieg nach der Heirat mit einem indischen Maschinenbauunternehmer in Bombay in dieses Metier ein. Die gelernte Sekretärin und Betriebspsychologin übernahm dort ab 1956 repräsentative Aufgaben für das österreichische Honorarkonsulat und widmete sich zudem in verschiedenen Wohlfahrtskomitees karitativen Aufgaben. Sie wurde als Delegierte von Indien an internationale Konferenzen für soziale Wohlfahrt nach Europa geschickt.[FN5 Schreiben des österreichischen Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten an Forschungsteam, 31.1.2023.] Zudem trat sie auf dem internationalen Parkett als Botschafterin für Frauenanliegen auf: Im Mai 1962 reiste sie in ihrer Funktion als Präsidentin der indischen Frauenorganisation Maharashtra State Women’s Council in die Schweiz und nahm in Liestal an der Delegiertenversammlung des Bunds Schweizerischer Frauenvereine teil.[FN6 Femmes suisses et le Mouvement féministe: organe officiel des informations de l'Alliance de Sociétés Féminines Suisses, Band 50 (1962), Heft 18, S. 4. Und Meldung im Schweizer Frauenblatt: Organ für Fraueninteressen und Frauenkultur, 16.3.1962, Band 41 (i.e.44), Heft 6, S. 3.] Dort stellte sie das Asha Sadan Rescue Home in Bombay, eine Institution einer lokalen indischen Frauenorganisation vor, in deren Vorstand sie sass.[FN7 Trudi (Pseudonym): Ein Werk des guten Willens. Der Bund Schweizerischer Frauenvereine unterstützte den Bau eines Heims in Bombay, in: Der Bund, 5.7.1964, S. 1.]
In dieses «Rettungsheim» wurden Frauen eingewiesen, denen sogenannte «sexuelle Verfehlungen» wie eine uneheliche Schwangerschaft zur Last gelegt wurden. Frauen konnten oft nicht abtreiben, aber ihr Kind auch nicht behalten.[FN8 Gauri Rani Banerjee: Rescue Homes for Women in Bombay, in: The Indian Journal of Social Work, 1946, S. 239–252.] Alice Khan-Meier trug bei ihrem Besuch in der Schweiz erfolgreich Spenden für einen Erweiterungsbau des Heims zusammen. Das neue Gebäude wurde 1963 durch den indischen Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru im Beisein des Schweizer Generalkonsuls und Botschafters eingeweiht. Alice Khan-Meier gelang es aufgrund ihrer internationalen Aktivitäten und Beziehungen, sich auf politisch höchster Ebene in Bombay bekannt zumachen. Mit dieser prominenten Unterstützung war sie mit einer Institution verbunden, aus der uneheliche Babys zur Adoption vermittelt werden konnten. Sie übernahm dabei auch selbst eine aktive Rolle.[FN9 Einem Schweizer Paar liess sie gleich drei Kinder zukommen. Vgl. dazu: StAAR D.069-04-22-01, Telefonnotiz des Zivilstandsdienstes der Gemeindedirektion des Kantons AR, 22.3.1973. So bedankte sich 1973 eine Zürcher Familie beim Schweizer Generalkonsul dafür, dass er ihre Bewerbung für ein indisches Adoptivkind an Alice Khan-Meier weiterleitete. Vgl. dazu BAR E2200.110#1991/106#31*, Schreiben an das Schweizerische Generalkonsulat in Bombay, 2.1.1973.]
Ingenbohler Schwestern in internationaler Mission
Wie Mutter Teresas Missionarinnen der Nächstenliebe waren auch die Ingenbohler Schwestern in Indien in der Adoptionsvermittlung weltweit tätig. Dabei beteiligt waren Schwester Waldtraut (1915–1989) und ihre (nach einem Mann benannte) Mitschwester Hermann-Josef (1929–2002) . Beide waren im Auftrag des römisch-katholischen Ordens «Barmherzige Schwestern vom heiligen Kreuz» vom Schweizer Mutterhaus in Ingenbohl in die Mission nach Indien geschickt worden, wo der Orden zahlreiche Einrichtungen betrieb. Dazu gehörte das Holy Cross Social Service Centre in Neu-Delhi, ein Adoptionszentrum, das von Schwester Hermann-Josef geführt wurde. Von hier gingen rund 1000 indische Kinder an Ehepaare in Europa, in den USA und in Australien.[FN10 Archiv des Instituts Ingenbohl in Brunnen (Schweiz), Nekrolog zur Ingenbohler Schwester Hermann-Josef Jegler (1929–2002), Provinz Baden-Württemberg.] Schwester Waldtraut hielt 1986 dazu fest: «Wir haben jetzt gerade 75 Familien in der Schweiz und in Deutschland besucht, und alle sind glücklich.»[FN11 Gisela Widmer: Ein Tag im Leben von Waltraud Grünenfelder, in: Tages-Anzeiger-Magazin, Dezember 1986.]Doch nicht nur Paare mit einem Kinderwunsch wandten sich direkt an die beiden Ingenbohler Schwestern in Neu-Delhi, sondern auch Terre des hommes in Lausanne und die Adoptionsvermittlerin Jo Millar im Kanton Genf.
Christina Inderbitzin in Femina, Nr18, 9.9.1981, S47-77
Länderübergreifendes Vermittlungsduo in der Kritik
Auch die Zürcher Adoptionsvermittlerin Christina Inderbitzin war über ihren indischen Kooperationspartner Länder übergreifend vernetzt.[FN12 BAR E4110B#1988/166#396*, Verfügung des Jugendamts des Kantons ZH, 26.3.1984.] Die gelernte Sekretärin, die sich immer gewünscht hatte, «in den Tropen zu arbeiten», tat sich 1978 mit dem Anwalt Bertram D. Shenoi in Bombay zusammen.[FN13 Petra Schanz: Zu Hause in Indien und der Schweiz, in: Tages-Anzeiger, 8.3.2007, S. 68.] Dabei handelte es sich um einen vom Schweizerischen Generalkonsulat empfohlenen «Vertrauensanwalt».[FN14 BAR E2200.64#2002/12#36*, Schreiben des Schweiz. Generalkonsulats in Bombay an Adoptionsinteressenten im Kanton ZH, 30.6.1978.] Inderbitzin hob seine europaweite und jahrelange Erfahrung bei mancher Gelegenheit hervor: Er stelle sich in den Dienst von Heimen, «die ihre Kinder ausschliesslich europäischen Organisationen mit unbescholtenem Namen anvertrauen», teilte sie 1979 etwa dem Zürcher Jugendamt mit.[FN15 BAR E4110B#1990/72#95*, Schreiben von Christina Inderbitzin an Jugendamt des Kantons Zürich, 16.1.1979.] Ihre Aufgabe sei es, die nötigen Unterlagen mit den Ehepaaren und der Sozialbehörde in der Schweiz vorzubereiten. Sie sei mit «einigen Ländern Europas» verbunden: «Nicht nur unser Anwalt, sondern auch die Leiterin eines norwegischen und schwedischen Adoptionszentrums sind mir dabei eine unschätzbare Hilfe.»[FN16 Ebd.] Weiter wies sie darauf hin, dass ihr Anwalt in Italien mit dem Center for International Adoption (CIAI) zusammenarbeite[FN17 BAR E4300C-01“1998/299#1349*, Schreiben von Christina Inderbitzin zu Spenden-Aktion, Juni 1979] und sie gemeinsam aus einem Heim Kinder ins Ausland vermittelten: «Ein Teil unserer Madras Kinder ist von einer italienischen Organisation anerkannt worden, und bereits haben einige unter ihnen in Italien zukünftige Adoptiveltern gefunden.»[FN18 BAR E4300C-01#1998/299#1349*,Schreiben von Christina Inderbitzin zu Patenschafts-Aktion, Juni 1979.]
Über die gemeinsame Adoptionsvermittlung gab Inderbitzin Ende 1981 in der Schweizer Frauenzeitschrift Femina ein Interview[FN19 BAR E4300C-01#1998/299#608*,Zeitschriftenartikel, Ursula Dubois: Nur stetige Bemühungen führen zum Ziel, in: Femina, 9.9.1981, S. 74–77.] wie auch im Schweizer Radio und machte so ihre Dienstleistung landesweit publik. Bald darauf, im Januar 1982, kamen jedoch kritische Stimmen auf. Die Justizabteilung des Aargauer Departements des Innern meldete sich zu Wort: «Unseres Wissens besitzt Frau Inderbitzin die hierfür erforderliche Bewilligung der Aufsichtsbehörde des Kantons Zürich nicht.»[FN20 BAR E4110B#1988/166#396*, Schreiben der Justizabteilung des Departements des Innern des Kantons AG an Bundesamt für Justiz, 6.1.1982.] Die Aargauer Behörde erstattete dem Bundesamt für Justiz aufgrund der fehlenden Bewilligung zur Adoptionsvermittlung zuhanden des Zürcher Jugendamts als Aufsichtsbehörde Anzeige. Sie stützte sich dabei auf die eigene gesetzliche Verpflichtung, Verstösse gegen die Verordnung über die Adoptionsvermittlung melden zu müssen.[FN21 Gemäss der Verordnung über die Adoptionsvermittlung vom 28. März 1973 brauchte eine Adoptionsvermittlerin für diese Tätigkeit eine Bewilligung der Aufsichtsbehörde (Art. 4). Behörden waren zudem verpflichtet, nicht eingehaltene Bestimmungen der Verordnung zu melden (Art. 23).] Allerdings geschah dies selten. Zahlreiche Vermittlungsstellen, die Kinder aus Indien in die Schweiz brachten, waren jahrelang ohne Bewilligung tätig.
Interview mit Christina Inderbitzin, Regionaljournal ZH SRF, 13.11.1981
«Doppelte Entwicklungshilfe»: Transkript zum Audio lesen
«Entwicklungshilfe auf eigene Faust»
Bezug zu Ausstellung in der Grossmünster-Helferei
Erlös u.a. an Inderbitzin
Wann kamen Sie und warum kamen Sie auf Indien?
«Ich kam im Prinzip auf Indien durch die Adoption durch unsere beiden Kinder und habe mir dabei («do») zum Ziel gesetzt, dem Land zu helfen, in dem Sinn, als ich das als beste Form von Dank erachte, indem man selbereinen Beitrag leistest für diejenigen, die im Land verblieben sind.
Was machen Sie konkret?
Ich versuche oder wir versuchen in einem kleinen Rahmen direkte Hilfe zu leisten an die, die selbst zu schwach sind oder keine Möglichkeit haben, sich zu helfen, also Aufbauprojekte im kleinsten Rahmen, nur mit Arbeitskräften aus dem Land selber und der Verwendung nur von Materialien, die vor Ort vorhanden sind.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Wir arbeiten im Moment in einem Projekt in Quillin, in Südindien, im Staat Kerala. Dort soll ein Heim für ledige Frauen, deren Kindern und junge Mädchen gebaut werden, alles Leute, die aus sozialunterprivilegiertester Schicht kommen und über keinerlei Schul- und Berufsausbildung verfügen und die in diesem Heim einen Beruf erlernen können sollen, die ihren späteren Anwendungsmöglichkeiten entspricht (sic!) ebenso wie ihren Fähigkeiten.
Das bringt mich gerade auf die Art der Hilfe, die sie leisten. Sie verkaufen hier indische Handarbeiten, Schmuck, Stoff, Bildteppiche. Woher kommen diese Sachen und wie kommen sie in die Schweiz?
Die Sachen werden hergestellt zum Teil in Heimen, Institutionen, mit denen wir zusammenarbeiten wie Lepra-Rehabilitationsstationen, die kommen aber auch von Orten, wo Aufträge vergeben werden, in Form von Heimarbeit, Anfertigung dieser Artikel.
Das heisst, dass Sie doppelte Entwicklungshilfe leisten, indem sie zum einen, Leuten den Auftrag geben, etwa herzustellen für Sie, und die Leute haben einen Gewinn davon und sie verkaufen die Artikel da und damit finanzieren sie dann Ihre weiteren Projekte damit?
Ja, ganz genau. Ziel von uns ist es (Räuspern), Einzelpersonen und ganze Familien zu rehabilitieren, indem man versucht, Arbeit zu vergeben, ihnen durch die Arbeit ein Einkommen zu verschaffen und andererseits hier die Bevölkerung damit zu konfrontieren, was Indien auch zu bieten hat, nebst der Armut, und gleichzeitig, eben wie Sie sagen, dadurch die Finanzierung durch Projekte in Indien.
Die Leute können sich aber auch noch auf eine andere Art mit den Problemen der indischen Bevölkerung auseinandersetzen, indem sie ein Kind sponsern. Müsste man sich das so vorstellen, dass man Götti wir deines indischen Jungen oder Mädchen?
Wenn man eine solche Beziehung aufbauen kann, ist das sicher schön, wenn man das Gefühl hat, man hat ein Gottenkind in Indien. Es ist tatsächlich so, dass wir Paten nicht nur für arme, sondern die ärmsten Kindersuchen, die von qualifizierten Leuten ausgelesen werden, die irgendwo im täglichen Leben in einer Gemeinde stehen, in irgendeinem Beruf. Ein Kind bekommt dann durch den Beitrag aus der Schweiz die Möglichkeit im besten Fall eine Schul- und Berufsausbildung zumachen und kann seiner Familie dadurch auch helfen.
1981, lizenziert durch Telepool GmbH, Zürich
Ronakshah1990, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons
Unrechtmässige Kindertransfers
Auch Inderbitzins Kooperationspartner Bertram D. Shenoi geriet in die Kritik. Mehrere ausländische Paare verlangten 1982 vor dem Obergericht in Bombay, dass sie das Gerichtsverfahren zur Übernahme von indischen Kindern für eine spätere Adoption mit ihrem Anwalt Shenoi an eben diesem Gericht durchführen können, an dem er akkreditiert war. Dies wäre für die ausländischen Interessenten das einfachste Prozedere gewesen: Sie hätten sich in Bombay, in der Stadt ihrer Ankunft, die Babys übergeben lassen können und nicht in entfernte Landesteile reisen müssen. Und sie hätten auch nicht vor irgendein Bezirksgericht treten müssen, zu dem ihr Adoptionsanwalt, Shenoi, keine Beziehungen hatte.
Das Obergericht in Bombay hielt jedoch fest, dass dieses Verfahren nicht zulässig sei. Im Gegenteil: Es hielt dem Anwalt in seinem Urteil vor, dass er indische Kinder unrechtmässig von einzelnen Bundesstaaten nach Bombay transferiere und diese Stadt fälschlicherweise als Wohnort ausgebe: Er fingiere den regulären Wohnsitz der Kinder, um die Gerichte zu umgehen, die von Gesetzes wegen an den Herkunftsorten der Kinder zuständig seien. Damit würden die Behörden in den jeweiligen Bundesstaaten daran gehindert, zu prüfen, ob die Kinder tatsächlich von ihren Eltern verlassen und zur Adoption gegeben worden seien. Sein Vorgehen mache den «Anschein eines gut organisierten und lukrativen Geschäfts», und solche manipulierten Arrangements seien «Betrug am Gericht».[FN22 https://indiankanoon.org/doc/229535/, Abruf 23.2.2024.] Der Richter ordnete an, dass jeder Antrag für die Aufnahme eines indischen Kinds vom zuständigen Gericht in demjenigen Bundesstaat behandelt werden müsse, aus dem das Kind stamme.[FN23 https://indiankanoon.org/doc/229535/, Abruf 23.2.2024.] Das Urteil des Obergerichts von Bombay vom Juli 1982 war ein Paukenschlag in der Rechtsprechung Indiens und floss in die juristische Literatur des Landes ein.[FN24 Zum Beispiel M. J. Antony: Child Adoption. Law and Malpractices. New-Delhi1984, S. 33.]
Inderbitzin versuchte in der Schweiz, den angeschlagenen Ruf ihres Kooperationspartners zu retten: In einem Artikel in einer Berner Tageszeitung bezeichnete sie ihn im März1983 als «Pionier der legalen Adoption».[FN25 abk. (Kürzel): Ein Hauch von «Tausendundeine Nacht», in: Der Bund, 15.3.1983, S. 13.] Kurz darauf, im April 1983, beantragte Shenoi beim Bundesamt für Ausländerfragen ein Langzeitvisum für die Schweiz und gab an, für europäische «Kinderwohlfahrtorganisationen» in Italien, Schweden und Norwegen zu arbeiten.[FN26 BAR E4300C-01#1998/299#608*, Formular «Demande d’autorisation d’entrée en Suisse»,7.4.1983.] Weitere Dokumente belegen, dass auch Deutschland zu den Zielländern seiner Adoptionsvermittlung gehörte.[FN27 https://www.linkedin.com/posts/arun-dohle-249810_i-can-only-post-my-own-paperwork-but-we-activity-7162399438932590592-PMds?utm_source=share&utm_medium=member_ios, Abruf 19.5.2024.] Inderbitzin verfasste für Shenoi zuhanden des Bundesamts für Ausländerfragen ein Einladungsschreiben, in dem sie ihr neu gegründetes gemeinsames Wohlfahrtsunternehmen vorstellte: Sie sei die Präsidentin der Organisation SISA (Shenoi and Inderbitzin Social Activities Association) in der Schweiz und fungiere zugleich als Treuhänderin der SISA Social Welfare Services in Bombay.[FN28 BAR E2200.110#1994/350#19*, «Letter of Invitation» von Christina Inderbitzin, 11.3.1983.] Die Bundesbehörde bewilligte schliesslich einzelne Einreiseanträge von Shenoi, so dass dieser in die Schweiz kommen und sich hier häufiger aufhalten konnte.[FN29 BAR E2200.110#1994/350#19*, Formular des Schweiz. Generalkonsulats in Bombay, 11.4.1983.]
Zürcher Jugendamt macht Kehrtwende
Das Zürcher Jugendamt als Aufsichtsbehörde reagierte auf die Aargauer Anzeige beim Bundesamt für Justiz von 1982 und die Disqualifikation von Shenoi durch das Obergericht in Bombay nicht mit einer Restriktion, im Gegenteil: Sie erteilte Inderbitzin 1984 nun die Bewilligung zur Adoptionsvermittlung aus Indien trotz der nach wie vor fehlenden, vom Gesetz aber geforderten Ausbildung in der Jugendfürsorge und trotz der stark angezweifelten Integrität von Inderbitzins Kooperationspartners. Das Jugendamt argumentierte, Ausnahmen seien möglich: Inderbitzins Abklärungen seien «fachlich fundiert, mehrdimensional angelegt» und «stets von echtem Verantwortungsgefühl» für das Kind geprägt.[FN30 BAR E4110B#1988/166#396*, Verfügung des Jugendamts des Kantons ZH,26.3.1984.] Inderbitzin führte die Adoptionsvermittlung bis Ende der 1990er-Jahre weiter. Auch nach der Jahrhundertwende verbrachte sie «die Hälfte des Jahres» in Indien, leitete dort nun, wie sie in den Medien ebenfalls publik machte, eine Schule und betrieb ein Reisebüro für exklusive Indienreisen: Wenn möglich nehme sie die Leute in Indien persönlich in Empfang, auf Wunsch reise ihr indischer «Repräsentant» als Begleitung mit: «Alle Routen, die ich vorschlage, sind vorgängig von mir abgefahren worden, jedes Hotelbett von mir getestet.»[FN31Schanz, Petra: Zu Hause in Indien und der Schweiz, in: Tages-Anzeiger vom 8.3.2007, S. 68.] Ihre langjährigen Erfahrungen in Indien flossen nun in eine neue Dienstleistung ein.