Mädchen bevorzugt

Von den insgesamt 2278 indischen Kindern, die zwischen 1979 und 2002 in der Schweiz adoptiert wurden, waren 1550 Mädchen und 728 Knaben, was einem Verhältnis von 68 zu 32 Prozent entspricht.[FN1 Bundesamt für Statistik, Statistik der natürlichen Bevölkerungsbewegung, Adoptionen nach Wohnkanton, Geschlecht und Staatsangehörigkeit der adoptierten Person vor der Adoption 1979–2020.] Dass von zehn indischen Adoptivkindern sieben Mädchen und drei Knaben waren – dieses auffallende Geschlechterverhältnis trifft im gleichen Zeitraum auch auf die Kantone Zürich und Thurgau zu.[FN2 Ebd.] Während Paare in der Schweiz lieber indische Mädchen adoptieren wollten, bevorzugten Paare in Indien Knaben.[FN3 M. J. Antony: Child Adoption. Law and Malpractices. New-Delhi 1984. S. 58.] In sozialwissenschaftlichen Studien werden dafür mehrere Gründe genannt: Nahm ein Ehepaar in Indien einen Adoptivsohn auf, blieb die Vererbungslinie intakt. Bei der Heirat des Sohns musste es keine Mitgift aufbringen. Auch patriarchale Vorgaben spielten eine Rolle: Ein Sohn hatte innerhalb der Familie mehr zu sagen und musste sich anders als eine Tochter nicht unterordnen. Statistische Erhebungen aus den 1980er-Jahren in Indien zeigen, dass diese Bevorzugung der Söhne für die Töchter schwere Folgen haben konnte: Mädchen litten eher unter Mangelernährung und erhielten im Krankheitsfall später und weniger medizinische Hilfe als Knaben, was zu einer höheren Häufigkeit von Erkrankungen und Sterblichkeit führte.[FN4 Monica Das Gupta, Jiang Zhenghua, Li Bohua, Xie Zhenming, Woojin Chung und Bae Hwa-Ok: Why is Son preference so persistent in East and South Asia? A cross-country study of China, India, and the Republic of Korea, in: The Journal of Development Studies, Band 40, Ausgabe 2, 2003, S. 153–187.  Vgl. Auch Radha Bhatt: Why do daughters die?, in: Shakti (Hg.): In Search of our Bodies. A Feminist View on Woman, Health, and Reproduction in India. Bombay 1987, S. 14–19.]

Paare in der Schweiz, die ein indisches Kind aufnehmen wollten, gaben ihren Wunsch meist bereits bei der Bewerbung und der Anmeldung bei der Adoptionsvermittlungsstelle an. Das Geschlecht des zukünftigen Kinds konnte Gegenstand der Verhandlung sein, wie Adoption International festhielt: «Sie würden ein Mädchen vorziehen, aber wenn es nicht anders gehe, nähmen sie auch den Knaben. Sie sind aber nach wie vor auf ein Mädchen eingestellt.»[FN5 StATG 4'635, 0/0, Protokoll von Adoption International zu Telefonat mit Pflegeeltern, 3.1.1984.] Manche Paare gaben dafür einen Grund an: «Wir wünschen uns nochmals ein Mädchen […]. Wir haben das Gefühl, dass wir weniger Probleme haben, wenn wir 2 Mädchen haben.»[FN6 StATG 4'635, 0/1, Schreiben einer Adoptivmutter an Adoption International, 12.2.1987.] Die eidgenössische Fremdenpolizei hielt im Rahmen traditioneller Geschlechterrollen die Aufnahme eines Mädchens ebenfalls für einfacher: «Der Eintritt in das Sozial- und Erwerbsleben stellt auch grössere Anforderungen für einen Jungen als für ein Mädchen.»[FN7 BAR E4110.03#2001/64#205*, Referat «Die Praxis hinsichtlich der Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen für ausländische Pflege- und Adoptivkinder in der Schweiz» von René Pachter, eidgenössische Fremdenpolizei, an der Regionalkonferenz der Fremdenpolizeichefs und deren Stellvertretern aus den ostschweizerischen Kantonen am 8. und 9. Juni 1978 in Savognin.]

Quellen / Literatur