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Im Sommer 1978 war die Schweizerische Botschaft in Neu-Delhi mit einer schwerwiegenden Affäre konfrontiert, die den Ruf der Schweiz zu schädigen drohte. Sie musste dem Eidgenössischen Politischen Departement in Bern mitteilen, dass das Indische Central Bureau of Investigation in 18 Fällen von Kindern ermittle, die für eine Adoption in der Schweiz ausgewählt worden waren. Anlass war ein am 1. Juli in der indischen Zeitung Ananda Bazar Patrika veröffentlichter Bericht, dass diese Kinder zum Teil gegen Geld vermittelt worden seien und in der Schweiz als «cobayes de recherche» zu Forschungszwecken benutzt würden. Involviert seien neben Milton McCann, dem «Repräsentanten von Terre des hommes in Indien», auch die Missionarinnen der Nächstenliebe, der Orden von Mutter Teresa.
Unter den Kindern befand sich auch die etwa zweijährige Amita, die Mitte April 1978 in Genf-Cointrin gelandet und für eine Familie im Kanton Thurgau bestimmt war. Das kleine Mädchen wurde nach der Ankunft auf Anweisung von Terre des hommes direkt in ein Spital ins benachbarte Meyrin gebracht – eine «Quarantäne»-Massnahme, zu der das Hilfswerk gar nicht berechtigt gewesen war. Auch wenn die medikamentöse Behandlung des sichtbar kranken Kinds im Spital gemäss der eingeholten Expertise der Medizinhistorikerin Iris Ritzmann als angemessen beurteilt werden kann, bleibt offen, ob sein gesundheitlicher Zustand bei der Ankunft ausschlaggebend für die Hospitalisation war.
Aus den Patientenakten im Adoptionsdossier geht hervor, dass Amita während ihres Aufenthalts von 18 Tagen im Spital einer Reihe von Untersuchungen unterzogen wurde. Die Ärzte entnahmen Blut, Urin und Stuhl, machten Rachenabstriche und saugten Magensaft ab. Die entnommenen Körperflüssigkeiten bildeten mit den darin enthaltenen Bakterien das Material, mit dem die Ärzte im Spitallabor Experimente durchführten. Sie vermehrten die gewonnenen Bakterien in einer Nährlösung und produzierten damit weiteres Material. Mittels einer mikrobiologischen Untersuchungsmethode wurde daran die Wirksamkeit verschiedener Antibiotika getestet. Einzelne Präparate und Darreichungsformen standen kurz vor der Zulassung. Dazu gehörten Arzneimittel wie Clamoxyl und Penbritin der Berner Pharmafirma Beecham sowie Bactrim des Basler Pharmaunternehmens F. Hoffmann-La Roche & Co.
Bei den Experimenten wurden die Bakterien aus den Körperflüssigkeiten des Mädchens, etwa aus seinem Magensaft, Meerschweinchen injiziert. Diese wurden nach 40 Tagen einer Autopsie unterzogen, um zu prüfen, was die Bakterien bzw. die verabreichten antibiotischen Stoffe in den Körpern der Tiere bewirkt hatten. Dabei handelte es sich um ein standardisiertes Vorgehen bei einer diagnostischen Abklärung, befindet die Medizinhistorikerin Iris Ritzmann. Sie betont weiter, dass es sich gemäss den Richtlinien der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften bei der Entnahme von Körperflüssigkeiten und der Erforschung dieser Stoffe im Spitallabor nicht um Menschenversuche handelt.
Dennoch diente die teilweise invasive Abnahme von Körperflüssigkeiten, etwa mit einer Magensonde, der Forschung. So war der 1978 in der indischen Presse geäusserte Vorwurf, Kinder müssten zu Forschungszwecken herhalten, nicht völlig aus der Luft gegriffen. Auch wenn damit nicht gesagt ist, dass Amita Schaden nahm, war die Behandlung hochproblematisch. Dies umso mehr, als sich im Adoptionsdossier keine Dokumente finden, in denen sich die Pflegeeltern oder eine vormundschaftliche Vertretung damit einverstanden erklärt hätten, das ohnehin schon vulnerable Kind in Testreihen für die Schweizer Pharmaindustrie einbeziehen zu lassen. Vor diesem Hintergrund beauftragten die indischen Behörden im Herbst 1978 den Generalkonsul der Indischen Botschaft in Genf damit, die Befindlichkeit der Kinder zu überprüfen, die wie Amita durch Terre des hommes und die Missionarinnen der Nächstenliebe in die Schweiz gelangt waren. Die Eidgenössische Fremdenpolizei wurde ebenfalls aktiv: Sie wies die kantonale Fremdenpolizeibehörden an, sich bei den Vormundschaftsbehörden zu erkundigen, wie es den Kindern gehe. Während dieser Abklärungen zog die Affäre weitere Kreise: Die Schweizerische Botschaft in Stockholm informierte die Politische Direktion in Bern Ende November darüber, dass das schwedische Fernsehen über die Vorwürfe berichtet und die pharmazeutische Industrie der Schweiz angegriffen habe. Die Bundesbehörde antwortete im Februar 1979, dass man inzwischen aus Berichten der Vormundschaftsbehörden wisse, dass es den Kindern gut gehe. Auch das Indische Generalkonsulat gab sich damit zufrieden. Beide Länder waren bemüht, die Angelegenheit ad acta zu legen.
Dass diese Affäre nicht als einzelne Intrige abgetan werden konnte, sondern mit einer grundlegenden Kritik an bestimmten Praktiken der internationalen Adoptionsvermittlung zusammenhing – darauf wies die damalige Adoptionsverantwortliche von Terre des hommes selbst hin, als sie zeitgleich zur Affäre ihren Dienst quittierte. Gegenüber den kantonalen Jugendämtern erklärte sie, dass es in Ländern der «Dritten Welt» eine Opposition gegen die Adoption gebe, die als «Form des Kolonialismus» bezeichnet werde; deshalb könne sie ihre Funktion nicht mehr ausüben.
Quellen / Literatur
- https://dodis.ch/52022.
- StATG 4'635, 10/13, Adoptionsdossier zu Amita (Name geändert) von Terre des hommes.
- Iris Ritzmann: Medizinhistorische Expertise zu pädiatrischer Fallgeschichte 1978, 2023.
- Monatsbericht der Interkantonalen Kontrollstelle für Heilmittel (IKS) 1977, Nr. 6, S. 401.
- Bulletin der Interkantonale Kontrollstelle für Heilmittel (IKS) 1979, S. 401, 501, 128, 206 und 611.
- BAR, E4300-01#1998/299#608*, Schreiben der Eidg. Fremdenpolizei der Kantone VS, GE, VD und TI, 19.10.1978 und an Fremdenpolizei der Kantone BE, TG, AR, 20.10.1978.
- BAR, E2023A#1991/39#1101*, Schreiben des Eidg. Politischen Departements an Schweizerische Botschaft in Stockholm, 7.2.1979.
- BAR, E4110B#1990/72#95*, Schreiben der Adoptionsverantwortlichen, Terre des hommes, au Conseil et Comité de Direction de Terre des hommes, 30.1.1979.
- BAR, E4110B#1990/72#95*, Schreiben der Adoptionsverantwortlichn, Terre des hommes, aux responsables d’Offices de mineurs, de Services de protection de la jeunesse, de Service de tuteurs généraux suivant des enfants placés en adoption par Terre des hommes, 2.2.1979.