Saira*[FN1 Alle mit * markierten Namen wurden anonymisiert] habe sich «prächtig» in die Familie eingelebt, hielt das Ehepaar Rieder* im Kanton Zürich im Adoptionsgesuch im September 1983 fest.[FN2 StAZH Z 1045.1646, Adoptionsgesuch, 15.9.1983.] Zweieinhalb Jahre zuvor hatten die Rieders durch das Kinderhilfswerk Terre des hommes in Lausanne und dessen Partnerorganisation Terre des hommes (India) Society in Kalkutta (heute Kolkata) mit Saira ein indisches Baby vermittelt bekommen und ihren Kinderwunsch erfüllen können. Dabei hatten sie ein Mädchen bevorzugt.
Das Bezirksgericht in Alipur, einem Vorort von Kalkutta, entschied im Februar 1981, dass Saira von einer Mitarbeiterin von Terre des hommes (India) Society in Obhut genommen und den Rieders überbracht werden durfte.[FN3 StAZH Z 1045.1646, Entscheide des Bezirksgerichts Alipur, 16. und 20.2.1981.] Darauf reiste die Frau mit dem Baby in die Schweiz. Dass das Personal von Vermittlungsstellen die Reisebegleitung übernahm, kam häufig vor.
Geburtsanzeige in rosa: „Nicht der [Storch], sondern das [Flugzeug] hat mich zu meinen neuen Eltern gebracht."
Geburtsanzeige in rosa: „Nicht der [Storch], sondern das [Flugzeug] hat mich zu meinen neuen Eltern gebracht. Das Flugzeug als technischer „Überbringer“ des Babys taucht als Motiv in „Geburtsanzeigen“ zu indischen Adoptivkindern mehrfach auf.
Für manche der Babys und Kleinkinder war der Flug in die Schweiz nicht die erste lange Reise, auf die sie geschickt wurden. Oft waren sie bereits zuvor innerhalb von Indien über weite Strecken nach Neu-Delhi, Kalkutta, Bangalore oder Bombay (heute Kolkata, Bengaluru und Mumbai) transferiert und dort in einem Kinderheim untergebracht worden, bis sie zur Adoption ins Ausland gegeben wurden.
Fehlende Geburtsurkunde und Verzichtserklärung
Saira sei 1980 geboren und «verlassen» aufgefunden worden, heisst es im Adoptionsgesuch.[FN4 StAZH Z 1045.1646, Adoptionsgesuch, 15.9.1983.] Als Beleg fügte das Ehepaar Rieder die beiden in englischer Sprache abgefassten Verfügungen des Gerichts bei, die mit unleserlichen Stempelabdrücken versehen sind und keine Unterschrift des Richters tragen.[FN5 StAZH Z 1045.1646, Entscheide des Bezirksgerichts Alipur, 16. und 20.2.1981.] Diese Gerichtsdokumente würden die Geburtsurkunde des Kinds und die Verzichtserklärung der Mutter ersetzen, hielten die Rieders* fest. Die Vormundschaftsbehörde an ihrem Wohnort beurteilte diese Unterlagen jedoch nicht als ausreichend und wies darauf hin, dass es für die Adoption gemäss Gesetz die Zustimmung der leiblichen Eltern braucht.[FN6 StAZH Z 1045.1646, Antrag der Vormundschaftsbehörde, Protokoll des Gemeinderats, 30.1.1984.] Dass diese Dokumente in der Schweiz fehlten, war kein Einzelfall.
In einer Stichprobe von 24 Adoptionen in den beiden Kantonen Zürich und Thurgau und bei allen im Thurgau ausgesprochenen Adoptionen von indischen Kindern im Untersuchungszeitraum fehlt die Zustimmungserklärung der leiblichen Eltern.[FN7 Sabine Bitter: Analyse von 24 Adoptionen in den Kantonen Zürich und Thurgau. In: Andrea Abraham, Sabine Bitter, Rita Kesselring (Hg.): Mutter unbekannt. Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau, 1973–2002. Zürich 2024. S. 226.] Dass diese Dokumente nicht vorlagen, beeinflusste die Entscheide nicht: Die Behörden sprachen die Adoptionen entgegen der gesetzlichen Vorgabe trotzdem aus.
Gefährdungsmeldung
Einer Adoption musste von Gesetzes wegen auch die Person zustimmen, die in der Schweiz die vormundschaftliche Aufsicht über das Pflegeverhältnis innehatte. Der Vormund von Saira begründete sein Einverständnis damit, dass sich das Kind schnell an die neue Familie gewöhnt und sich sehr gut entwickelt habe, sodass eine «echte Liebesbeziehung» entstanden sei und «für das Wohl, eine gute Erziehung und die nötige ‘Nestwärme’ gesorgt» sei.[FN8 StAZH Z 1045.1646, Schreiben des Vormunds an Gemeinderat, 20.9.1983.]
Diese Beurteilung erstaunt aus zwei Gründen. Zum einen wurde der Vormund erst fünf Monate nach der Ankunft von Saira eingesetzt. Demnach überblickte er das Pflegeverhältnisses nicht von Anfang an. Wie die Analyse von 24 Indien-Adoptionen in den Kantonen Zürich und Thurgau zeigt, kam es häufig vor, dass das Pflegeverhältnis nicht durchgängig durch eine:n Vormund:in beaufsichtigt wurde, wie es das Gesetz verlangte. Eine mangelhafte vormundschaftliche Vertretung wurde von Fachleuten auch beklagt.[FN9 Sabine Bitter: Analyse von 24 Adoptionen in den Kantonen Zürich und Thurgau. In: Andrea Abraham, Sabine Bitter, Rita Kesselring (Hg.): Mutter unbekannt. Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau, 1973–2002. Zürich 2024. S. 219–223.] Zum anderen erstaunt die Zustimmung des Vormunds, weil er wusste, dass es «Klagen wegen Misshandlungen des Pflegekindes» gab.[FN10 StAZH Z 1045.1646, Antrag der Vormundschaftsbehörde, Protokoll des Gemeinderats, 30.1.1984.] Das Jugendsekretariat teilte ihm mit, die Nachbarn der Rieders hätten gemeldet, dass Saira gefährdet sei: Der Pflegevater sei jähzornig, und die Pflegemutter drohe mit Gewalt. Als Beispiel dafür hätten die Nachbarn eine Äusserung der Frau zitiert: «Ich schlage dich zusammen, wenn du den Nuggi nimmst.»[FN11 StAZH Z 1045.1646, Schreiben des Bezirksjugendsekretariats an Vormund, 14.7.1983.]
Für das Jugendsekretariat handelte es sich um Warnsignale, die auf eine Überforderung der Familie hinwiesen. Es forderte den Vormund auf, sich um den Fall zu kümmern. Dieser teilte ein paar Wochen später mit, dass er mit den Rieders Gespräche geführt und dabei den Eindruck gewonnen habe, die «Anschuldigungen» seien «teilweise stark übertrieben».[FN12 StAZH Z 1045.1646, Schreiben des Vormunds an Bezirksjugendsekretariat, 4.8.1983.] Das Jugendsekretariat gab sich mit dieser Antwort zufrieden. Die Vormundschaftsbehörde der Wohngemeinde hingegen erachtete diese Rückmeldung als «ungenügend».[FN13 StAZH Z 1045.1646, Schreiben der Vormundschaftsbehörde an Bezirksjugendsekretariat, 11.11.1983.] Sie liess die Verhältnisse deshalb noch von einer Pflegekinderbetreuerin begutachten. Ihr Bericht fiel schliesslich positiv aus: Saira sei ein fröhliches und lebhaftes Kind. Es verhalte sich seinem Alter entsprechend, habe Entwicklungsrückstände aufgeholt und fühle sich «offensichtlich wohl».[FN14 StAZH Z 1045.1646, Bericht einer Pflegekinderbetreuerin an Vormundschaftsbehörde, 22.12.1983.]
Darauf konnten die Rieders im Frühjahr 1984 ihr Adoptionsgesuch erneuern. Der Bezirksrat sprach ihnen Saira zu.[FN15 StAZH Z 1045.1646, Adoptionsbeschluss des Bezirksrats, 6.6.1984.] Dass die Einwilligungserklärung der leiblichen Eltern im Dossier fehlte, war kein Thema mehr. Der Bezirksrat akzeptierte damit, dass Terre des hommes das Kind vermittelt hatte, ohne die gesetzliche verlangte Verzichtserklärung vorzulegen. Das Laiengremium störte sich auch nicht daran, dass das Bundesamt für Ausländerfragen bei der Erteilung des Visums nicht darauf bestanden hatte, sich dieses Dokument vorlegen zu lassen. Die Behörden auf Bezirks-, Kantons- und Bundesebene ignorierten das Fehlen der elterlichen Zustimmung durchs Band. Und dies ganz im Gegensatz zum Wissen, das in den Büros des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements in Bern vorhanden und auf einem verwaltungsinternen Übermittlungszettel im Herbst 1983 zu lesen war: «Der Kinderhandel geht weiter.»[FN16 BAR E4300C-01#1998/299#1324*, verwaltungsinterner Übermittlungszettel, 17.10.1983.]