Hoch zu Pferd ritt die Ingenbohler Schwester Waldtraut 1952 durch das Chechari-Tal im indischen Bundesstaat Jharkhand, um dort den christlichen Glauben zu verbreiten. Schon als Mädchen hatte sie den Wunsch gehabt, in die Mission zu gehen, heisst es in ihrem Nekrolog von 1990. Schwester Waldtraut war 1915 als Elisabeth Grünenfelder zur Welt gekommen und in einer kinderreichen Familie in Wangs im Kanton St. Gallen aufgewachsen. Mit 17 Jahren trat sie ins Schwesterninstitut Ingenbohl des römisch-katholischen Ordens der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Kreuz ein und liess sich zur Kindergärtnerin ausbilden. Sechs Jahre später legte sie das Gelübde ab. Sie arbeitete zunächst in ihrem Beruf, bis sie zusammen mit der Ingenbohler Schwester M. Hubert Erhard (die Ordensfrauen trugen oft einen Männernamen) in die Mission nach Indien zog. Die beiden Frauen brachen im Dezember 1951 auf. An Heiligabend kamen sie in der Hindu-Pilgerstadt Benares (heute Vanarasi) im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh an. Dort nahm sie wider Erwarten niemand in Empfang, und sie verbrachten die Nacht auf der Bahnstation.[FN1 Archiv Institut Ingenbohl in Brunnen, Nekrolog, in: Sarganserländer, Januar 1990, S. 3.]
Vom nordindischen Dorf in eine Mega-City
Nach der Ankunft in Benares hatte Schwester Waldtraut noch einmal 360 Kilometer zurückzulegen, bis sie ins Dorf Mahuadanr im Chechari-Tal gelangte, ihre erste Missionsstation. Bald darauf wurde sie vom Mutterhaus ins Dorf Fakirana im indischen Bundesstaat Bihar berufen. Dort übernahm sie die Leitung des St. Mary’s Home, eines Kinderheims, das bereits 1899 von Ingenbohler Schwestern gegründet worden war. Aus einer Liste des Instituts Ingenbohl von 1981 geht hervor, dass aus diesem Heim zahlreiche indische Kinder in die Kantone Aargau, Bern, Freiburg, Genf, Jura, Luzern, Neuenburg und Waadt vermittelt wurden.[FN2 Ebd., Liste «Fakirana Kinder in der Schweiz» (bis Juli 1981).]
Für Schwester Waldtraut folgten weitere Stationen. So wurde sie in die Stadt Brahmapuri im Bundesstaat Maharashtra beordert, um dort eine Missionsstation aufzubauen – ein Vorhaben, das scheiterte. Nach einem Jahr übersiedelte sie nach Patna, in die Hauptstadt des Bundesstaats Bihar.[FN3 Ebd., Nekrolog, in: Sarganserländer, Januar 1990, S. 4.] In diesem Bundesstaat hatten sich bereits 1894 die ersten Missionarinnen aus Ingenbohl niedergelassen.[FN4 https://www.scsc-ingenbohl.org/weltweite-einsatzorte/provinz-indien-zentral/, Abruf 23.2.2024.]
In Bettiah hatten sie ein Heim für Mädchen errichtet, und von hier kam auch eine erste indische Ordensschwester, die sich nach Ingenbohl berufen liess.
Ingenbohler Schwestern als Adoptionsvermittlerinnen
Ende der 1970er-Jahre erkrankte Schwester Waldtraut an Malaria und klagte über Herzbeschwerden. Sie wurde deswegen nach Neu-Delhi versetzt und dort in einem Altersheim mit leitenden Aufgaben betraut.[FN7 Archiv Institut Ingenbohl in Brunnen, Nekrolog, in: Sarganserländer, Januar 1990, S. 5.] In dieser Stadt traf sie auf die Ingenbohler Schwester Hermann-Josef (1929–2002). Diese war seit 1963 in der Mission in Indien und hatte ebenfalls verschiedene Stationen durchlaufen, bis sie sich in Neu-Delhi niederliess. Dort führte sie ein Adoptionszentrum, das Holy Cross Social Service Centre, auch Holy Cross genannt, das aus einer Kinderkrippe hervorgegangen war.[FN8 Ebd. Nekrolog zur Ingenbohler Schwester Hermann–Josef Jegler (1929–2002), Provinz Baden-Württemberg.] Aus dieser Einrichtung vermittelte sie Kinder zur Adoption ins Ausland.[FN9 Ebd.] Schwester Waldtraut war davon angetan und stieg ab 1981 ebenfalls in dieses Metier ein.[FN10 Widmer Gisela: Ein Tag im Leben von Waltraud Grünenfelder, in: Tages-Anzeiger-Magazin, Dezember 1986.]
Sie liess sich von indischen Gerichten für Babies jeweils die «Guardianship», übertragen.[FN11 BAR, E4300C-01#1998/299#1349*, Kopie der Verfügung des Bezirksgerichts Delhi, 4.5.1982 (Übernahme der Obhut, in diesem Fall zusammen mit einem Ehepaar aus dem Kanton GE); BAR,E4300C-01#1998/299#1349*, Telex der Schweiz. Botschaft in Neu-Delhi an Bundesamt für Ausländerfragen und das eidg. Dep. für auswärtige Angelegenheiten betreffend Guardianship für ein Kind, das für ein Ehepaar im Kanton SZ bestimmt war, 17.11.1982.] Damit übernahm sie die Obhut über die betreffenden Kinder und brachte manche von ihnen selbst in die Schweiz. Neben Schwester Hermann-Josef wurde auch Waldtraut in Neu-Delhi zu einer direkten Anlaufstelle für Paare aus der Schweiz. Solche Kontakte waren für Paare, die ein indisches Kind adoptieren wollten, sehr hilfreich. Die Missionarinnen sprachen deutsch und kannten sich in Indien sehr gut aus, so dass auf die Inanspruchnahme einer Vermittlungsstelle in der Schweiz verzichtet werden konnte. Interessierte Paare gaben die einschlägigen Adressen durch Mund-zu-Mund-Propaganda weiter, wie 1981 ein Sozialarbeiter zum Vorgehen eines Ehepaars aus dem Kanton Zürich feststellte: «Durch Bekannte, die auch ein Kind aus Indien adoptiert haben, sind sie auf die Möglichkeit gestossen, über eine Vermittlungsstelle in Indien ein indisches Kind zu adoptieren.»[FN12 A20: STAW AV, zu Etat 8314, Bericht eines Sozialarbeiters, 22.5.1981.]
Über 1000 Kinder vermittelt
Die beiden Ordensfrauen spielten nicht nur für einzelne Paare die Rolle von Türöffnerinnen, sondern auch für Schweizer Vermittlungsstellen. Als Mitte Januar 1982 eine Mitarbeiterin des Vereins Adoption International in Neu-Delhi ein Verbindungsbüro einrichten wollte und bei der schweizerischen Botschaft um Unterstützung bat,[FN13 BAR E2023A#1998#212#1161*, Gesprächsprotokoll der Schweiz. Botschaft, 13.1.1982.] wurde ihr empfohlen, Schwester Waldtraut zu kontaktieren.[FN14 BAR E2200.110#1994/350#19*, Schreiben des Schweiz. Generalkonsulats in Bombay an Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe, Abt. für humanitäre Hilfe im Eidg. Dep. für auswärtige Angelegenheiten, 12.2.1982.] Terre des hommes klopfte bei ihr ebenso an wie die Vermittlerin Jo Millar aus dem Kanton Genf. Letztere platzierte indische Kinder zur Adoption vorwiegend in der Westschweiz. Sie verhalf manchen Ehepaaren gleich zu mehreren indischen Kindern.
Tribune de Genève: Homestory einer Familie, die sieben indische Kinder adoptiert hat zu den eigenen vier.
Der Name der Familie wurde geschwärzt.
Für ihre Dienste warb sie extensiv: Die Liste der Zeitungsartikel über ihren Adoptionsservice ist lang.[FN15 BAR, E2200.64#1998/111#22*, Vgl. u. a. Zeitungsartikel von Aditya Sinha,«Foreign homes for the disabled», in: The Times of India, 24.3.1983; Zeitungsartikel von Stéphane Vincent, «Rencontre familles adoptives et enfants à Cointrin. L’amour était au rendez-vous», in: Le Courrier, 24.11.1987; Zeitungsartikel von Jyoti Malhotra,«Not children of a lesser god», in: Indian Express (Sunday edition), 10.4.1988.] Zu einem Höhepunkt der Publizität kam es im Oktober 1989, als Jo Millar das Zehn-Jahres-Jubiläum feierte und die Medien dazu einlud, bei der Ankunft des 400. indischen Kindes im Flughafen Genf-Cointrin dabei zu sein.[FN16 StALU, Kassetten-Aufnahmen der RTS-Sendung «Scooter», eine Radioreportage, in der angehende Adoptiveltern kurz vor Ankunft eines Flugzeugs mit indischen Kindern und beim Empfang befragt wurden.]
Stimmen von Paaren, die im Flughafen Genf-Cointrin auf ein zukünftiges Adoptivkind warten. Ausschnitt aus der Sendung «Scooter», RTS, 1.10.1989.
O-Ton Eine Frau sagt: «Sag 'bye-bye airplane' (...), 'bye India!'»
StALU, FDC 116_8.1, Kassetten-Aufnahmen der Sendung «Scooter», RTS, 1.10.1989.
Ronakshah1990, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons
Bei den Ingenbohler Schwestern Waldtraut und Hermann-Josef in Neu-Delhi liefen viele Fäden zusammen. Das Bundesamt für Ausländerfragen erfuhr von der schweizerischen Botschaft in Neu-Delhi im November 1982, dass Schwester Waldtraut allein im betreffenden Jahr 50 Kinder in die Schweiz vermittelt hatte. Und dem Nekrolog zu Schwester Hermann-Josef ist zu entnehmen, dass sie über die Jahrzehnte an die 1000 indische Kinder zur Adoption bei Ehepaaren in Europa, den USA und Australien platziert habe.[FN17 Archiv Institut Ingenbohl in Brunnen, Nekrolog zur Ingenbohler Schwester Hermann–Josef Jegler (1929–2002), Provinz Baden-Württemberg.] Demnach war sie im grossen Stil international tätig.
Das Personal der schweizerischen Vertretungen in Neu-Delhi und Bombay kannte die Ingenbohler Schwestern persönlich. Man traf sich an den Anlässen der Auslandschweizer-Vereine, der Swiss Society, und feierte gemeinsam mit Vertretern namhafter Schweizer Unternehmen in Indien jährlich den 1. August oder die Santa Claus Party. Einladungsschreiben, Gästelisten, Ablaufpläne der Festakte bis hin zu Menükarten geben im Schweizerischen Bundesarchiv Einblick in das rege Gesellschaftsleben der Schweizer Expats.
Kindswegnahme
Besonders eng waren die Beziehungen zwischen der schweizerischen Botschaft in Neu-Delhi und Schwester Waldtraut. Diese war hin und wieder in einer besonderen Mission unterwegs: Sie übernahm im Auftrag der Botschaft Nachforschungen, um für die schweizerische Vertretung inkognito Informationen zu beschaffen.[FN18 BAR, E4300C-01#1998/299#1349*, Aktennotiz der schweiz. Botschaft in Neu-Delhi, 22.2.1985.] In ihrer Ordenstracht war sie mit Autorität ausgestattet und unverdächtig unterwegs. Doch 1982 wurde diese vertrauliche Zusammenarbeit arg strapaziert: Die Botschaft und das Bundesamt für Ausländerfragen in Bern mussten sich mit einer unlauteren Übergabe eines indischen Mädchens an ein Paar in der Schweiz befassen, bei der Schwester Waldtraut federführend gewesen war. Vor dem Bezirksgericht in Neu-Delhi hatte sie unter Eid erklärt, die leiblichen Eltern seien «unbekannt» und hätten ihr Kind ausgesetzt. Wie sich bald herausstellte, war dies nicht der Fall: Im Gegenteil, die indische Mutter verlangte nachdrücklich ihr Kind zurück.[FN19 BAR, E4300C-01#1998/299#1349*, Telex der Schweiz. Botschaft in Neu-Delhi an Bundesamt für Ausländerfragen und Eidg. Dep. für auswärtige Angelegenheiten, 17.11.1982.]
Der Botschaft behandelte die Affäre äusserst diskret, indem sie mit dem Bundesamt für Ausländerfragen in dieser Angelegenheit nur mit chiffrierten Telegrammen korrespondierte. Dies schien umso dringlicher, als neben der Ingenbohler Schwester auch noch der Vertrauensanwalt der Botschaft in diesen Fall involviert war, was kein gutes Licht auf die Schweiz warf. Ein Botschaftsmitarbeiter appellierte an das Bundesamt für Ausländerfragen, vom Schweizer Paar die Rückgabe des Kinds zu verlangen, und schlug vor, solange alle ausstehenden Anträge für weitere Visa für indische Kinder zu sistieren.[FN20 BAR, E4300C-01#1998/299#1349*, Telex der Schweiz. Botschaft in Neu-Delhi an Bundesamt für Ausländerfragen und Eidg. Dep. für auswärtige Angelegenheiten, 17.11.1982.] Das Bundesamt für Ausländerfragen teilte der Botschaft schliesslich mit, dass das Paar bereit sei, zugunsten der Mutter auf das Kind zu verzichten und es zurückzugeben.[FN21 BAR, E4300C-01#1998/299#1349*, Telex (chiffr.) des Bundesamts für Ausländerfragen an Schweiz. Botschaft in Neu-Delhi, 24.11.1982 und 25.11.1982.] Es verlange vom Anwalt jedoch, dass der geleistete Betrag von CHF 20'000 auf einem Sperrkonto hinterlegt werde. Diese Summe würde dem Anwalt dann wieder ausbezahlt, wenn er das bisherige Kind dereinst gegen ein anderes «ausgetauscht» habe.[FN22 BAR, E4300C-01#1998/299#1349*, Telex (chiffr.) des Bundesamts für Ausländerfragen an Schweiz. Botschaft in Neu-Delhi, 26.11.1982.]
„Kosteninformation“ des Vereins Adoption International.
Die offiziellen Preise für die Dienstleistung der Vermittlung betrugen bei Schweizer Adoptionsvermittlungsstellen jeweils mehrere tausend Franken. Es kam aber auch vor, dass Paare, die an einer Adoption interessiert waren, schliesslich höhere Beträge bis zu CHF 20'000 oder CHF 30'000 bezahlten.
Die offiziellen Preise für die Dienstleistung der Vermittlung betrugen bei Schweizer Adoptionsvermittlungsstellen jeweils mehrere tausend Franken. Es kam aber auch vor, dass Paare, die an einer Adoption interessiert waren, schliesslich höhere Beträge bis zu CHF 20'000 oder CHF 30'000 bezahlten.
Staatsarchiv des Kantons Bern, StABE, BB 03.4.685.
Das von der indischen Mutter eingeforderte Kind wurde schliesslich Anfang Dezember 1982 von einem Mitarbeiter des Anwalts in der Schweiz abgeholt und nach Indien zurückgebracht.[FN25 BAR, E4300C-01#1998/299#1349*, Telex mit Vermerk «urgent» von Peter S. Erni, Schweizer Botschafter in Neu-Delhi, an Bundesamt für Polizei, 9.12.1982.]
Schon wenige Monate später musste sich das Bundesamt jedoch mit einem weiteren äusserst problematischen Fall befassen: Eine Familie, die mit Schwester Waldtrauts Hilfe ein elfjähriges Mädchen aufgenommen hatte, liess es wieder nach Indien zurückbringen. Sie begründete dies damit, dass sich das Kind in der Schweiz nicht habe integrieren können.[FN26 BAR, E2200.64#1994/251#23*, Telegramm des Bundesamts für Ausländerfragen an Schweiz. Botschaft in Neu-Delhi, 21.3.1983.] Schwester Waldtraut setzte danach zusammen mit Jo Millar alle Hebel in Bewegung, um das Mädchen erneut in der Schweiz zu platzieren.
Ohne Einsicht
Die schweizerische Botschaft in Neu-Delhi hatte mit diesen beiden Affären alle Hände voll zu tun. In einer Aktennotiz wies der Kanzleichef der Botschaft darauf hin, dass der Moment, in dem ein Kind an Ordensschwestern übergeben werde, der «wunde Punkt» sei, bei dem es zu Missbrauch und dem Verkauf von Kindern kommen könne.[FN27 BAR, E2200.64/2002/12#36* Aktennotiz der Schweiz. Botschaft in Neu-Delhi zur Besprechung vom 20.9.1983, 28.9.1983.] Die Botschaft schlug Schwester Waldtraut deshalb vor, bei zukünftigen Visumsanträgen die Verzichtserklärung der indischen Eltern vorzulegen, wie dies auch die schweizerische Gesetzgebung zum Pflegeverhältnis und zur Adoption vorschrieb. Doch davon habe Schwester Waldtraut nichts wissen wollen: «Sie versteht nicht, wie jemand ‘diese gute Sache in Frage stellen’ kann.»[FN28 Ebd.] Sie selbst erläuterte 1986 im Magazin des Zürcher Tages-Anzeigers ihre Mission: «Wir haben jetzt gerade 75 Familien in der Schweiz und in Deutschland besucht, und alle sind glücklich.»[FN29 Widmer Gisela: Ein Tag im Leben von Waltraud Grünenfelder, in: Tages-Anzeiger-Magazin, Dezember 1986.]