Aussenwand des Shelters St. Catherine’s Home, das in den 1990er Jahren als eine von zehn Institutionen in Bombay unehelich schwangeren Frauen und ledigen Müttern Unterstützung anbot.

Institutionen für ledige Mütter (Shelters)

Das «Shelter» Shraddhanand Mahilashram liegt im Süden Mumbais, im Stadtteil Matunga, der an Indiens grössten Slum, Dharavi, anschliesst. Das weiss-grüne Art Deco Gebäude liegt ruhig gelegen gegenüber dem Nirmal Hospital, welches 1983 als Kinderspital mit einer Neonatologie begann und seine Dienste ab 2001 für erwachsene Patient*innen erweiterte. Im Shelter finden seit 1927 Frauen und Kinder jeglicher Religions- und Kastenzugehörigkeit[FN1 Bis 1955 begrenzte das Shelter seine Unterstützung auf hinduistische Frauen und Kinder. Danach wurde das Shelter zu einer säkularen Institution, in der Frauen und Kinder unabhängig von ihrer Religions- und Kastenzugehörigkeit Unterstützung erhalten.] Zuflucht. Die Gründung der Institution war unter anderem eine Reaktion auf christlich-missionarische Institutionen, die die Unterstützung notleidender Frauen und Kinder an deren Konversion zum Christentum koppelten. Die St. Galler Fürsorgerin Alice Honegger, die jahrzehntelang durch illegale Vermittlungspraktiken aufgefallen ist, vermittelte Schweizer Paaren Kinder aus dem Shelter Shraddhanand Mahilashram.

Das Shelter Shraddhanand Mahilashram in Mumbai bietet Frauen und Kindern in Not seit 1927 Unterstützung an. Bildquelle: Andrea Abraham und Sabine Bitter, Februar 2024.

Das Shelter Shraddhanand Mahilashram in Mumbai bietet Frauen und Kindern in Not seit 1927 Unterstützung an. Bildquelle: Andrea Abraham und Sabine Bitter, Februar 2023.

Viele der Frauen, die das Shraddhanand Mahilashram seit seiner Gründung aufsuchten, waren unehelich schwanger geworden. Im Shelter erhielten sie medizinische und sozialarbeiterische Unterstützung sowie Zugang zu Bildung, moralischen und religiösen Instruktionen[FN2 Dabir, Neela (1994). A study of a shelter home for women in distress. Mumbai: SNDT Women’s University Mumbai.]. Doch auch hier galt die uneheliche Schwangerschaft als soziales Vergehen. Dies zeigte sich beispielsweise darin, dass die Institution bis in die 1990er Jahre von den betroffenen Frauen Bussgelder verlangte.

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Vertrag des Shelters Shraddhanand Mahilashram mit den unehelich schwangeren Frauen

Zudem hatten unehelich schwangere Frauen im Alltag des Shelters den untersten Status, wie die indische Soziologin Neela Dabir in ihrer Dissertation zum Shelter Shraddhanand Mahilashram[FN3 Dabir, Neela (1994). A study of a shelter home for women in distress. Mumbai: SNDT Women’s University Mumbai.]zeigte. Aus diesen Gründen wurde den eintretenden Frauen geraten, zurückhaltend mit ihrer Geschichte umzugehen.  

Neun Shelters für unehelich schwangere Frauen in Bombay

In den frühen 1990er Jahren gab es im damaligen Bombay 25 Shelters für Mädchen und Frauen in Notsituationen. Neun von ihnen boten Unterstützung für unehelich schwangere Frauen an – und betrieben gleichzeitig auch eine Adoptionsvermittlungsstelle[FN4 Dabir, Neela (1994). A study of a shelter home for women in distress. Mumbai: SNDT Women’s University Mumbai.]:

  • Asha Sadan Rescue Home im Stadtteil Umerkhadi
  • Bal Anand im Stadtteil Chembur
  • Bal Asha im Stadtteil Mahalakshmi
  • Bapnu Ghar im Stadtteil Mahalakshmi
  • Salvation Army im Stadtteil Sion
  • Shishu Bhavan (Missionaries of Charity von Mutter Teresa) im Stadtteil Parle West
  • Shraddhanand Mahilashram im Stadtteil Mutunga
  • St. Catherine's Home im Stadtteil Andheri West
  • Sukh Shanti im Stadtteil Anushakti Nagar

Das Shelter Asha Sadan war in den 1990er Jahren eine von neun Institutionen in Bombay, die unehelich schwangeren Frauen und ledigen Müttern Unterstützung anboten. Bildquelle: Andrea Abraham und Sabine Bitter, Februar 2023.

Diese Institutionen waren mehrheitlich spendenbasiert, und einige orientierten sich an religiösen Grundsätzen: Das St. Catherine’s Home und die Missionarinnen der Nächstenliebe waren beispielsweise römisch-katholische Institutionen, die Salvation Army basierte ihre Arbeit auf protestantischen Grundsätzen und das Shelter Shraddhanand Mahilashram pflegte hinduistische Traditionen. Ihre Dienste standen jedoch auch Frauen aus anderen Religionen offen. Daneben gab es auch staatliche «Government reception centres». Spitäler wiederum betrieben teilweise Abteilungen, auf denen schwangere Frauen bis zur Geburt bleiben konnten. Sie arbeiteten mit Shelters und Agencys.[FN5 Hierbei handelte es sich um Kinderheime, die eine Lizenz für die Adoptionsvermittlung hatten.]

Von der Schwangerschaft bis zur Geburt

Eine uneheliche Schwangerschaft stellte für die betroffenen Frauen und ihre Familie ein Stigma dar. Es führte in der Regel dazu, dass Mütter sich von ihrem Kind trennten: durch Abtreibung, Adoption, Aussetzung oder gar Kindstötung (Infantizid).[FN6 1991 wurde als Reaktion auf die hohe Rate an Infantiziden (insbesondere die Tötung von weiblichen Neugeborenen) im indischen Bundesstaat Tamil Nadu das «Cradle Baby Scheme» etabliert und später von weiteren Bundestaaten übernommen. Es handelte sich dabei um ein Präventionsprogramm. Eltern hatten die Möglichkeit, ihre Kinder anonym in Institutionen abzugeben, welche die Kinder zur Adoption vermittelten.] Über die Umstände der Zeugung, die bestehende Schwangerschaft und die Geburt wurde zu schweigen versucht. Indem Mädchen oder Frauen für die Schwangerschaft und Geburt in teils weit entfernte Städte gebracht wurden oder sich selbst dorthin begaben, sank das Risiko, dass ihre uneheliche Schwangerschaft bekannt wurde. In vielen Fällen arbeiteten die Spitäler, Adoptionsvermittlungsstellen und Shelters zusammen. So erinnert sich Gynäkologe Anand Ghosh (Name geändert), den Andrea Abraham und Asha Narayan Iyer als Zeitzeugen 2023 in Mumbai interviewten: 

«Wir hatten im Krankenhaus eine spezielle Station für diese Art von Patientinnen. Sie kamen und wurden für neun Monate aufgenommen. [...] Wenn sie in der Gesellschaft blieben, in ihrem eigenen Haus, hätten die Nachbarn gewusst, dass sie schwanger waren. Dann wurde es zu einem sozialen Stigma. [...] Sie haben entbunden, das Baby wurde an irgendeinen Ort geschickt und sie gingen in die andere Richtung.» 

Solche örtlichen Wechsel bedeuteten, dass die Frauen während ihrer Schwangerschaft nicht auf vertraute Strukturen, Praktiken oder Personen zurückgreifen konnten, wie z.B. ältere Frauen in der Familie oder in der Gemeinschaft. Auch erlebten sie keine öffentliche Bekanntmachung und Feier ihrer Schwangerschaft.

Anwara mit ihrem Kind im Shelter Asha Kendra in Kalkutta, 1986. Die 1986 in der Zeitschrift India Today erschienene Fotoserie liefert einen seltenen Einblick in den Alltag eines Shelters und zeigt Portraits von Frauen, die sich aufgrund einer unehelichen Schwangerschaft in das Shelter begeben haben.

Ambivalente Orte zwischen Fürsorge und Zwang, Erleichterung und Trauma

Institutionen wie Shelters und Spitäler waren für viele unehelich schwangere Frauen die einzigen Anlaufstellen, an denen sie Hilfe erhielten. Auch wenn die Frauen in ihrer Notlage Schutz, Nahrung, Gesundheits- und Schwangerschaftsversorgung erhielten, stellten die Einrichtungen fast immer auch den Ort der Trennung von ihrem Kind dar. Die indische Soziologin Neela Dabir zeigt in ihrer Dissertation auf, dass die von ihr untersuchten Shelter die Unterstützung der Frauen an ihre Trennung von ihren Kindern knüpften:

«Alle diese Heime sind unwillig, eine Unterkunft anzubieten, wenn die Frau nicht bereit ist, ihr Kind zur Adoption freizugeben. [...] Es sind keine anderen Einrichtungen für weitere Hilfe und Rehabilitation verfügbar.»

Dabir, Neela (1994). A study of a shelter home for women in distress. Mumbai: SNDT Women’s University Mumbai. Hier S. 342.

Neela Dabir beschreibt am Beispiel des Shelters Shraddhanand Mahilashram, dass die Trennung von ihrem Kind für Mütter sowohl «ein Trauma als auch eine Erleichterung»[FN8 Dabir, Neela (1994). A study of a shelter home for women in distress. Mumbai: SNDT Women’s University Mumbai. Hier S. 301.] sein konnte: Die Sheltermitarbeitenden kümmerten sich um den Grossteil der Betreuung, während die Mutter ihr Kind primär zum Stillen traf. Der Shelter wollte die Kinder aus gesundheitlichen Gründen gestillt haben, aber für die Mütter war dies aus Bindungsgründen schwierig, wie die Soziologin beobachtete. Weiter hatten Frauen an diesen Übergangsorten im Alltag keine definierte Position und Rolle mehr, wie dies in ihrer Familie der Fall gewesen war. Sie lebten von der Gesellschaft abgeschottet und mussten ihr Leben an die Regeln der Einrichtung anpassen.

Bis 1991 waren die Mütter verpflichtet, sechs Monate nach der Geburt im Shelter zu bleiben. Dies wurde mit ihrem Schutz vor einer zu frühen Verheiratung durch ihre Eltern begründet. Die Frau sollte genügend Zeit erhalten, um sich körperlich zu erholen und die Spuren von Schwangerschaft und Geburt abklingen zu lassen, wobei Kaiserschnittnarben oder Dehnungsstreifen lebenslange Zeichen blieben. Shelters sahen ihren Auftrag auch darin, Frauen nach der Trennung von ihrem Kind sozial zu rehabilitieren und nutzten diese sechs Monate, um mit ihnen das Leben nach dem Shelter zu planen.

Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts waren Shelters und Kinderheime mit Adoptionszertifizierung (Agencys) für Schweizer Adoptionsvermittler*innen[FN9 Zum Beispiel Terre des hommes, Helga Ney, Divali Adoption Service (Jo Millar), das Kinder-Fürsorge Haus Seewarte (Alice Honegger), Adoption International (Rupert Spillmann), das Seraphische Liebeswerk, Elisabeth Kunz, die Ingenbohler Schwestern Waldtraut und Hermann-Josef oder Adoption Unity (Christine Inderbitzin).] die zentralen Anlaufstellen in Indien.

Bis zur Gründung der «Central Adoption Resource Agency» CARA im Jahr 1990 gab es in Indien keine zentrale Anlaufstelle für internationale Adoptionen, so dass die Schweizer Vermittler*innen direkt mit den Shelters und Agencys zusammenarbeiteten. Diese Zusammenarbeit verlief nach dem Prinzip «Geben und nehmen»: Schweizer Vermittlungsstellen unterstützten indische Agencys und Shelters finanziell. Im Gegenzug sicherten diese zu, indische Kinder bereitzuhalten, die an Ehepaare in der Schweiz für eine spätere Adoption vermittelt werden konnten.[FN10 Abraham, Andrea, Bitter, Sabine & Kesselring, Rita (2024). Indische Rechtspraxis bei internationalen Adoptionen. Erkenntnisse für die Schweiz. In Andrea Abraham, Sabine Bitter & Rita Kesselring (Hrsg.), Mutter unbekannt. Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau, 1973-2002. S. 117-129. Chronos.] Dieser Umstand verschärfte die oben beschriebene Ambivalenz: Im Fokus dieser Arrangements standen die Kinder, die zukünftigen Adoptiveltern und die Motive der Schweizer und indischen Adoptionsvermittlungsstellen. Die leiblichen Mütter wurden indes zu Leerstellen gemacht. Sie versuchten sich vorzugsweise durch Heirat gesellschaftlich wieder zu integrieren, aber wie ihr Leben nach dem Shelter weiterging, bleibt weitgehend unbekannt.