Traditionelles Bild der Durga Puja der Familie Dutta Chaudhury aus Andul

Soziale Rehabilitation lediger Mütter in Indien

«Wären Sie bereit, eine verwitwete Frau oder eine junge ledige Mutter zu heiraten, die keine Verpflichtungen für ihre Kinder hat?»

Diese Frage stammt aus einem Fragebogen des Shelters Shraddhanand Mahilashram[FN1 Die Soziologin Neela Dabir hat den Fragebogen im Appendix ihrer Dissertation zum Shelter Shraddhanand Mahilashram angefügt. Er ist nicht datiert, war aber in den 1990er Jahren zum Zeitpunkt von Dabirs Forschung, im Einsatz. Dabir, Neela (1994). A study of a shelter home for women in distress. Mumbai: SNDT Women’s University Mumbai.], einer Institution für Frauen und Kinder in Not.

«Wären Sie bereit, eine verwitwete Frau oder eine junge ledige Mutter zu heiraten, die keine Verpflichtungen für ihre Kinder hat?» Auszug aus einem Fragebogen, den die Ehevermittlung des Shelters Shraddhanand Mahilashram an heiratswillige Männer abgab. In den Sprachen Marathi (erste Zeile) und Hindi (zweite Zeile)

«Wären Sie bereit, eine verwitwete Frau oder eine junge ledige Mutter zu heiraten, die keine Verpflichtungen für ihre Kinder hat?» Auszug aus einem Fragebogen, den die Ehevermittlung des Shelters Shraddhanand Mahilashram an heiratswillige Männer abgab. In den Sprachen Marathi (erste Zeile) und Hindi (zweite Zeile) Quelle: Dabir, Neela (1994). A study of a shelter home for women in distress. Mumbai: SNDT Women’s University Mumbai.

PDF

Fragebogen auf Englisch für heiratswillige Männer

Fragebogen, den die Ehevermittlung des Shelters Shraddhanand Mahilashram an heiratswillige Männer abgab.

PDF

Fragebogen auf Hindi für heiratswillige Männer

Fragebogen, den die Ehevermittlung des Shelters Shraddhanand Mahilashram an heiratswillige Männer abgab.

Buchcover der Studie über das Shelter Shraddhanand Mahilashram, welche die indische Soziologin in den frühen 1990er Jahren durchführte und damit einen einzigartigen Einblick in die Lebensrealitäten unehelich schwangerer Frauen in Mumbai gewährte.

Buchcover der Studie über das Shelter Shraddhanand Mahilashram, welche die indische Soziologin in den frühen 1990er Jahren durchführte und damit einen einzigartigen Einblick in die Lebensrealitäten unehelich schwangerer Frauen in Mumbai gewährte. Foto: Andrea Abraham, April 2023.

Der Fragebogen wurde von Männern ausgefüllt, die sich für die Ehe mit einer Bewohnerin des Shelters interessierten. Das Shelter Shraddhanand Mahilashram war eine jener Institutionen, die offiziell eine solche Heiratsvermittlungsstelle führte, die für die Bewohnerinnen Ehen arrangierten und ihnen so ermöglichten, in die Gesellschaft zurückzukehren. Der Preis dafür war in der Regel jener, dass sie sich von ihren Kindern trennten , wie die indische Soziologin Neela Dabir[FN2 Dabir, Neela (1994). A study of a shelter home for women in distress. Mumbai: SNDT Women’s University Mumbai. Hier S. 342.] beschreibt:

«Alle diese Heime sind unwillig, eine Unterkunft anzubieten, wenn die Frau nicht bereit ist, ihr Kind zur Adoption freizugeben. [...] Es sind keine anderen Einrichtungen für weitere Hilfe und Rehabilitation verfügbar.»

Neela Dabir[FN3 Dabir, Neela (1994). A study of a shelter home for women in distress. Mumbai: SNDT Women's University Mumbai.] schreibt, dass es sich um eine breit genutzte Vermittlungsstelle handelte: In der Regel meldeten sich Männer, die auf keine andere Art und Weise heiraten konnten, weil sie z.B. in einer Institution aufgewachsen waren, keine Familie hatten, unter einer Beeinträchtigung litten, geschieden, verwitwet oder arbeitslos waren, oder ihre Eltern kastenübergreifend geheiratet hatten. Die Sozialarbeitenden der Vermittlungsstelle arrangierten die Ehen entlang eines Selektionsverfahrens, das Gespräche mit den interessierten Männern, Bewerbungsformulare, Angaben über Beruf, Verdienst und Vermögen und Informationen zur Familie mit einschloss. In einem zweiten Schritt trafen sich der Mann und die Frau zu einem gegenseitigen Interview, wobei der Frau vorgängig Informationen über den Mann zur Verfügung gestellt wurden. Wenn sich beide Seiten für eine Ehe entschieden hatten, erhielt auch der Mann Hintergrundinformationen über die Frau. Zudem wurde er einer medizinischen Kontrolle unterzogen. Danach holte er das Einverständnis seiner Eltern ein, durfte aber niemandem etwas zu den erhaltenen Informationen über die Frau erzählen. In einem weiteren Schritt kam es zu einem Hausbesuch bei der Familie des Mannes, bei welchem die Frau von Vertreterinnen des Shelters begleitet wurde, um die Angemessenheit und Zumutbarkeit des zukünftigen Zuhauses zu überprüfen. Nachdem der Mann dem Shelter ein Depot bezahlt hatte, konnte es zur Heirat kommen. Falls die Ehe innerhalb von drei Jahren wieder aufgelöst wurde, behielt das Shelter das Depot. Mithilfe eines Fonds stattete das Shelter die Frau materiell für die Heirat und das Leben als Ehefrau aus. Zudem erhielt das Paar eine rudimentäre Eheberatung durch das Shelter, die Neela Dabir aber als ungenügend einstuft, weil die sexuelle Aufklärung und Familienplanung zu wenig umfassend thematisiert wurden. Die Hochzeit wurde in der Regel im Shelter durchgeführt.

Buchcover der Studie über das Shelter Shraddhanand Mahilashram, welche die indische Soziologin in den frühen 1990er Jahren durchführte und damit einen einzigartigen Einblick in die Lebensrealitäten unehelich schwangerer Frauen in Mumbai gewährte. Foto: Andrea Abraham, April 2023.

Buchcover der Studie über das Shelter Shraddhanand Mahilashram, welche die indische Soziologin in den frühen 1990er Jahren durchführte und damit einen einzigartigen Einblick in die Lebensrealitäten unehelich schwangerer Frauen in Mumbai gewährte. Foto: Andrea Abraham, April 2023.

Das hinduistische Durga Puja Fest findet in den Monaten September/Oktober zu Ehren der Göttin der Weisheit Durga statt.

Das hinduistische Durga Puja Fest findet in den Monaten September/Oktober zu Ehren der Göttin der Weisheit Durga statt. Quelle: Wikimedia Commons

Shelter als Ort der Rückkehr

Manche der Shelters blieben auch nach der Hochzeit mit den Frauen in Kontakt, sei es für persönliche Anliegen zur Eheführung oder Familienplanung, oder im Rahmen eines jährlichen Zusammenkommens. Indische Zeitzeuginnen, die Andrea Abraham und Asha Narayan Iyer im April 2023 in Mumbai interviewten, erinnern sich, dass die betroffenen Frauen die Mutterschaft, den Aufenthalt in der Einrichtung und die Trennung von ihrem Kind niemandem erzählten und es gewissermassen aus ihrer Biografie «herausschnitten». Die ehemalige Agency-Direktorin Pramila Gandhi (Name geändert) beschreibt dies als ein lebenslanges Geheimnis:

«Das Mädchen konnte niemandem davon erzählen und trug das Geheimnis ihrer verlorenen Mutterschaft ihr ganzes Leben lang mit sich herum.»

Um die Frauen mit diesem belastenden Geheimnis zu unterstützen, boten manche Agencies und Shelters im Untersuchungszeitraum unserer Recherche (1973-2002) jährliche Zusammenkünfte für Mütter an, die ihre Kinder zur Adoption weggegeben hatten. So berichtet die ehemalige Agency-Mitarbeiterin Shilpi Alagh (Name geändert) davon, dass das mehrtägige indische Fest Durga Puja zu Ehren der hinduistischen Göttin Durga, zu welchem Töchter ihre Mütter besuchen, für die Mütter eine schwierige Zeit waren, die sie zusammen in der Agency verbringen konnten:

«Sie waren alle herausgeputzt und machten Henna. [...] Und sie haben sich miteinander verbunden. Wir haben mit ihnen diskutiert, und sie haben ihre Gefühle geteilt. Haben sie es überwunden? Erinnern sie sich an ihr Kind? Welche Gefühle haben sie, und was wollen sie dem Kind entgegenbringen? All das haben wir mit ihnen besprochen, damit sie sich Luft verschaffen konnten, weil sie mit niemandem sonst darüber reden konnten. [...] Wir haben das oft gemacht, und es war ein sehr hilfreiches Netzwerk für sie, denn man denkt nur an Netzwerke von Adoptiveltern oder Adoptivkindern. Man denkt nicht an die leiblichen Mütter.»

Mit der Verheiratung war den Frauen somit eine soziale Rehabilitation möglich, für welche sie jedoch einen hohen Preis zahlten: Die Trennung von ihrem Kind. Wie ihr Leben unter diesen Umständen weiterging, bleibt weitgehend unbekannt: Es gab und gibt in Indien weder einen öffentlichen Diskurs noch wissenschaftliche Studien zu den leiblichen Müttern. Einzig erfolgreiche Herkunftssuchen geben Hinweise auf die Wege, die das Leben der jeweiligen Mutter genommen hat, und wie sie mit der Trennung von ihrem Kind umgegangen ist.[FN4 Einige dieser Suchen in Indien sind dokumentiert und öffentlich zugänglich, sei es auf Plattformen adoptierter Personen oder in Form von medialen Berichterstattungen, Autobiografien oder Dokumentarfilmen aufbereitet. So zum Beispiel:'Meeting my mother after 42 years was a miracle'(BBC News), YOU FOLLOW: a search for one's past(Dokumentarfilm)]