Frauen demonstrieren in Indien für Anlaufstellen von weiblichen Opfer sexueller Gewalt in Indien.

Sexuelle Gewalt im privaten und beruflichen Umfeld

Die Geschichte der Adoption ist teilweise auch eine Geschichte von sexueller Gewalt gegen Mädchen und Frauen. Es geht um Vergewaltigungen ausserhalb der Ehe und Inzest, die zu Schwangerschaften führten. Die Täter waren oft Verwandte, Freunde der Familie oder Nachbarn. Auch Männer mit hohem sozialem Status waren Täter. Dazu gehörten zum Beispiel Arbeitgeber von Hausangestellten, Plantagen- oder Fabrikarbeiterinnen oder spirituelle Lehrer.

Nila, 12 Jahre alt: sexuelle Gewalt in der Familie

Die 12-jährige Nila (Name geändert) wurde in den 1990er Jahren von ihrem Onkel vergewaltigt und geschwängert. Sie erzählte ihrer Mutter erst spät davon. Die Frist für eine Abtreibung, die bei 20 Schwangerschaftswochen lag, war verstrichen. Es blieb nur die Option einer Geburt. Obschon sich der Onkel nach indischem Gesetz strafbar gemacht hatte, fiel es den Eltern schwer, ihn anzuzeigen. Sie taten es trotzdem und wurden dabei von der indischen Sozialarbeiterin Pritha Somnath (Name geändert), die Andrea Abraham und Asha Narayan Iyer in Mumbai interviewt haben[FN2 Abraham, Andrea & Narayan Iyer, Asha (2024). Die uneheliche Mutter als Stigma. Eine ethnografische Recherche in Indien. In Andrea Abraham, Sabine Bitter & Rita Kesselring (Hrsg.), Mutter unbekannt. Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau, 1973–2002 (S. 53-74). Chronos.], unterstützt. Nila musste die restliche Schwangerschaft aber in einer weit entfernten Ortschaft ohne ihre Familie verbringen. Das doppelte Stigma ihrer Tochter, unverheiratet und durch eine Vergewaltigung schwanger geworden zu sein, konnte die Familie nicht tragen.

Für Nila, die noch ein Kind und gleichzeitig auch werdende Mutter war, entstand eine Aufschichtung belastender Erfahrungen: die Vergewaltigung, die Verheimlichung der Schwangerschaft, Angst und Scham, Loyalitätskonflikte gegenüber dem Täter, der Wegzug aus ihrem vertrauten Umfeld in eine Institution (Shelter), die Geburt und somit Mutterschaft im Alter von 13 Jahren, die anschliessende Weggabe des Kindes, die Rückkehr in das Elternhaus und die Fortsetzung ihrer Jugend.  

Pritha Somnath arbeitet seit den 1990er Jahren an der Schnittstelle von Sozialer Arbeit und Polizei. Sie hat in dieser Rolle viele Mädchen und Frauen wie Nila begleitet, die Gewalt erlebt haben. Sie schildert, dass sie in dieser Arbeit zwei Dinge besonders herausforderten: Je älter die minderjährigen Frauen waren, desto mehr Verantwortung für die Vergewaltigung wurde ihnen zugeschrieben. Und viele minderjährige Frauen waren den Tätern gegenüber loyal. Deshalb war es schwierig, die Tat zu melden und zu ahnden.  

Eine weitere Herausforderung erlebte Pritha Somnath mit Frauen, die körperlich oder kognitiv beeinträchtigt waren: Aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stigmatisierung waren sie gegenüber sexuellen Übergriffen besonders vulnerabel.

Saba, 30 Jahre alt: Beeinträchtigung als Risiko für sexuelle Gewalt

Saba[FN3 Die Geschichte von Saba wurde 1986 in der Zeitschrift India Today publiziert.] wurde von ihren Schwestern in den frühen 1980er Jahren in einem Ashram in einem Vorort von Kalkutta ausgesetzt, weil sie unter einer kognitiven und körperlichen Beeinträchtigung litt und von ihrer Familie nicht weiter versorgt werden konnte. Sie lebte in einer Fantasiewelt, in der sie sich als hinreissende Schönheit sah, die Männer unwiderstehlich fanden. Ein Wachmann des Ashrams nutzte dies aus und hatte mit Saba ungeschützten Geschlechtsverkehr, der zu einer Schwangerschaft führte. Im dritten Monat schwanger, begab sich Saba zum Hilfswerk International Mission of Hope (IMH)[FN4 1977 gründete die von Mutter Teresa inspirierte US Amerikanerin Cherie Clark in Kalkutta das Hilfswerk International Mission of Hope (IMH) und vermittelte während 12 Jahren Kinder an adoptionswillige europäische und US-amerikanische Paare. An den Standorten Kalkutta und Madras betrieb das Hilfswerk Shelters für unehelich schwangere Frauen.], welches sowohl das Shelter Asha Kendra als auch ein Kinderheim mit Adoptionsvermittlung betrieb. Ihr fehlte das Wissen, wie es zur Schwangerschaft hatte kommen können. Die körperliche Veränderung während der Schwangerschaft war für sie zudem sehr belastend. Mamata Gupta, die damalige Leiterin von Asha Kendra, erinnert sich: «Jedes Mal, wenn sich das Baby in ihr bewegte, wimmerte sie vor Angst und zog sich in ihre Fantasiewelt zurück.»

Das Hilfswerk vermittelte Sabas Kind nach der Geburt an ein adoptionswilliges Ehepaar und unterstützte Saba darin, ihr weiteres Leben zu organisieren (siehe auch soziale Rehabilitation).

Anwara (rechts) und Mona, die 1986 beide als unehelich schwangere Bewohnerinnen im Shelter Asha Kendra in Kalkutta lebten.

Kolkata, India, January 2016 India's largest red light district, Sonagachi, at night.

Anwara, 14 Jahre alt: Arbeit im Rotlichtmilieu Kalkuttas

Viele Frauen wurden an ihrem Arbeitsplatz ungewollt schwanger, so beispielsweise Anwara[FN5 Die Geschichte von Anwara wurde 1986 in der Zeitschrift India Today publiziert.]: Sie wuchs in den 1970er und 1980er Jahren in den engen Gassen Sonagachis auf, dem ältesten und grössten Rotlichtviertel in Kalkutta. Bereits ihre Mutter hatte sich prostituiert. Viele der Frauen begannen mit der Prostitution, um der häuslichen Gewalt zu entfliehen oder ökonomisch zu überleben, nachdem ihr Ehemann sie und ihre Kinder verlassen hatte. Wieder andere Frauen hatten vorgetäuschte Jobangebote als Kindermädchen oder Haushaltshilfen erhalten.[FN6 Sleightholme, Carolyn & Sinha, Indrani (1996). Guilty Without Trial: Women in the Sex Trade in Calcutta. Rutgers University Press. https://archive.org/details/guiltywithouttri0000slei (18.06.2024)] Oder sie hatten keine andere Möglichkeit, als den gleichen Beruf wie ihre Mutter auszuüben, wie im Fall von Anwara.

In den von Zuhälterinnen und Zuhältern betriebenen Bordellen mussten viele Mädchen und Frauen ungeschützten Geschlechtsverkehr praktizieren – mit dem Risiko sexuell übertragbarer Krankheiten und Schwangerschaften. 1992 begann das All India Institute of Public Health and Hygiene in Sonagachi mit einer grossen Präventionskampagne, welche nebst Aufklärung auch die kostenlose Angabe von Kondomen beinhaltete.[FN7 Rao, Vijayendra; Gupta, Indrani; Lokshin, Michael & Jana, Smarajit (2003). Sex workers and the cost of safe sex: the compensating differential for condom use among Calcutta prostitutes. Journal of Development Economics, 71(2), 585-603.] Die 1997 in Kalkutta stattfgefundene First National Conference of Sex Workers in India symbolisierte den Auftakt einer grossen indischen Bewegung von Sexarbeiterinnen.[FN8 https://www.nswp.org/sites/nswp.org/files/Sex%20Workers%20Manifesto%20-%20Meeting%20in%20India.pdf (18.06.2024)] Die 14-jährige Anwara wurde schwanger, bevor diese Kampagnen greifen konnten. Auch sie suchte im Shelter Asha Kendra des Hilfswerks International Mission of Hope (IMH)[FN9 1977 gründete die von Mutter Teresa inspirierte US Amerikanerin Cherie Clark in Kalkutta das Hilfswerk International Mission of Hope (IMH) und vermittelte während 12 Jahren Kinder an adoptionswillige europäische und US-amerikanische Paare. An den Standorten Kalkutta und Madras betrieb das Hilfswerk Shelters für unehelich schwangere Frauen.] Unterstützung: «Wie kann ich mich um ein Kind kümmern? Ich bin selbst ein Kind» wird sie in der Reportage von India Today 1986 zitiert.

Andere Frauen wurden schwanger, nachdem ihre Vorgesetzten sie vergewaltigt hatten. Sie arbeiteten in Niedriglohnsektoren wie der Landwirtschaft, in einer Fabrik oder als Hausangestellte. Ab den 1980er Jahren schlossen sich Frauen, die im informellen Sektor als Strassenverkäuferinnen, Händlerinnen, Bidi Rollerinnen etc. arbeiteten in Kooperativen und Gewerkschaften zusammen. Vom Einkommen der Arbeiterinnen war oftmals die ganze Familie existenziell abhängig. Aus diesem Grund konnten sie ihren Arbeitsort nicht einfach aufgeben. Der Gynäkologe Anand Ghosh (Name geändert), den die Forscherinnen Andrea Abraham und Asha Narayan Iyer in Mumbai interviewt haben[FN10 Abraham, Andrea & Narayan Iyer, Asha (2024). Die uneheliche Mutter als Stigma. Eine ethnografische Recherche in Indien. In Andrea Abraham, Sabine Bitter & Rita Kesselring (Hrsg.), Mutter unbekannt. Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau, 1973–2002 (S. 53-74). Chronos.], hat in den 1980er und 1990er Jahren mit Frauen gearbeitet, die mit ihren Familien als Tagelöhnerinnen für Tabakfabriken arbeiteten: 

«Zu jener Zeit gab es in Mangalore eine riesige Tabakindustrie. [...]. Alle Frauen und ihre Töchter und die ganzen Familien arbeiteten dort. Die Väter waren auf den Feldern, um den Tabak zu ernten, und die Mütter und Töchter waren in der Fabrik, um den Tabak zu rollen. [...] Am Ende des Tages zeigten sie [die Aufseher und Werksleiter] einfach auf sie, und die Frauen mussten mit ihnen nach Hause gehen. [...] Wenn sie [mit dem Geschlechtsverkehr] nicht einverstanden waren, verloren sie ihre Arbeit. Das waren alles Tagelöhnerinnen. Sie bekamen 15 bis 20 Rupien, um 300 Bidis [Zigaretten] an einem Tag zu drehen. Und sie nahmen dieses Geld und ernährten sich am Ende des Tages damit. [...] Die Schwangerschaft wurde einfach fortgesetzt, weil sie keine Zeit hatten, ins Krankenhaus zu gehen, um abzutreiben. Und dann wurden sie eingeliefert und bekamen ihr Kind. Sie gingen in der Nacht weg und ließen das Baby zurück. [...] Die Polizei konnte nicht wirklich eingreifen, denn wenn diese Leute nicht kommen und eine Anzeige machen, kann sie nichts weiter unternehmen.»

(Anand Ghosh, Gynäkologe)​
Mangalore Ganesh Beedies, handgerollte Zigaretten aus dem indischen Bundesstaat Karnataka

Mangalore Ganesh Beedies, handgerollte Zigaretten aus dem indischen Bundesstaat Karnataka (Aviva West, CC BY-SA 2.0).

Diese Skizze zeigt ein heranwachsendes Mädchen aus einer Stadt in Rajasthan (Indien).

Das Einfordern von Geschlechtsverkehr durch die Arbeitgeber war in vielen Fällen unausgesprochener Bestandteil des Arbeitsverhältnisses. Arbeiterinnen, die einer tieferen Kaste angehörten, galten gewissermassen als «sexuelles Eigentum» der Arbeitgeber. Durch die fehlende Ahndung setzte sich ein System von sexueller Ausbeutung fort, das bei vielen der betroffenen Frauen zu ungewollten, unehelichen Schwangerschaften führte.

Für die Sozialarbeiterin Pritha Somnath gehören solche Schicksale keineswegs der Geschichte an. Deshalb treibt sie mit ihrem Engagement auch in ruralen Gegenden Indiens die Zusammenarbeit von Sozialer Arbeit und Polizei voran: Die „Special Cell for Women and Children – A movement to end violence against women“ feiert 2024 ihr 40-jähriges Bestehen. Die erste «Special Cell for Women and Children» wurde 1984 im damaligen Bombay gegründet. Heute gibt es landesweit 612 solcher Anlaufstellen.[FN11 Zur ausführlicheren Geschichte der «Special Cells for Women and Children» siehe: https://tiss.edu/view/11/projects/all-projects/special-cell-for-women-and-children-maharashtra/]

Eine von bereits 612 Anlaufstellen für Frauen und Mädchen, die von Gewalt betroffen sind. Bei diesen «Special Cells for Women and Children» handelt es sich um eine Kooperation von Sozialer Arbeit und Polizei.

Eine von bereits 612 Anlaufstellen für Frauen und Mädchen, die von Gewalt betroffen sind. Bei diesen «Special Cells for Women and Children» handelt es sich um eine Kooperation von Sozialer Arbeit und Polizei. (Quelle: TISS)