Man sieht den Flughafen Genf in den 70er Jahren aus der Vogelperspektive. Swissair-Flugzeuge stehen auf dem Rollfeld. Im Hintergrund sieht man Berge und im Vordergrund das Abfertigungsgebäude mit dem Schriftzug GENEVE.

Vom Flughafen direkt ins Spital

An einem frühen Aprilmorgen 1978 wurde Amita*[FN99 Alle mit * markierten Namen wurden geändert] im Flughafen von Kalkutta von einer Stewardess in eine Maschine der Air India gesetzt.[FN1 StATG 4'635, 10/13, Schreiben der Adoptionsverantwortlichen, Terre des hommes, an Pflegekinderaufsicht, 14.4.1978 und an Infirmerie de l’Aéroport Genf-Cointrin, 11.4.1978.] Die Kleine war dort von Milton McCann von Terre des hommes (India) Society für die Familie Voser (Name geändert) im Kanton Thurgau ausgewählt worden und sollte nach Genf fliegen. Die Familie stand seit 1976 bei der Partnerorganisation Terre des hommes in Lausanne auf der Warteliste für ein indisches Kind. Die vorgegebene Formulierung im Anmeldeformular lautete vielversprechend: «Sie haben den Wunsch, ein verlassenes Kind in Ihrem Heim aufzunehmen. Vielleicht können wir diesen Wunsch gemeinsam verwirklichen.»[FN2 StATG 4'635, 10/13, Aufnahme-Formular von Terre des hommes, ausgefüllt vom Ehepaar Voser, 6.1.1976.]

Die Vosers hofften, zu einem Kind zu kommen, um ihre bereits bestehende Familie vervollständigen zu können, wie sie gegenüber Terre des hommes festhielten. Dies war eines von oft genannten Motiven von Paaren, die sich für ein Adoptivkind bewarben. Das Thurgauer Ehepaar reichte ärztliche Atteste, Leumundszeugnisse, Strafregister- und Bankauszüge sowie Fotos von sich ein. Terre des hommes erkundigte sich währenddessen in der Wohngemeinde über die Familienverhältnisse und erhielt von der Pflegekinderaufsicht der Vormundschaftsbehörde einen positiven Bescheid: Die Familie sei «sehr zu empfehlen».[FN3 StATG 4'635, 10/13, Schreiben der Pflegekinderaufsicht an das komm. Waisenamt, 19.7.1976.] Darauf schickte das Hilfswerk im Juni 1977 die Dokumente nach Indien und ans Indische Generalkonsulat in Genf. Die Vosers wurden aufgefordert, einen ersten Betrag von CHF 1'200 für das administrative Verfahren und den Unterhalt des Kinds in Indien zu leisten. Nach der Überweisung, so erfuhren sie weiter, werde die Einreisebewilligung beantragt.

Fehlende Verzichtserklärung

Einen Monat später erhielten die Vosers die Nachricht, dass Milton McCann für sie in Kalkutta im Heim der Missionarinnen der Nächstenliebe, dem Orden von Mutter Teresa, ein Mädchen gefunden habe. Ein Anwalt stelle bereits die Unterlagen für die Gerichtsverhandlung bereit. Im Oktober 1977 war es soweit: Vor dem Bezirksgericht in Alipur, einem Vorort von Kalkutta, trat eine Mitarbeiterin von Milton McCann und Terre des hommes (India) Society auf. Sie gab eine eidesstattliche Erklärung ab, dass sie die rechtmässige Vertreterin von Amita sei, was das Gericht in einer Verfügung bestätigte. Allerdings wurde darin nicht erklärt, wer dieser Frau das Kind zuvor anvertraut hatte. Sie bat das Gericht nun darum, das Mädchen aus ihrer Obhut in jene von Herrn Voser übergeben zu dürfen. Diesem Antrag stimmte das Bezirksgerichtebenfalls zu.[FN4 StATG 4'635, 10/13, Erlass (Original) des Bezirksgerichts Alipur, 1.10.1977.]

Ob die leiblichen Eltern je ihr Einverständnis zur Übergabe des Kinds an Terre des hommes (India) Society und zur Adoption im Ausland gegeben haben, geht aus keinem der beiden Gerichtsdokumente hervor. Das ist kein Einzelfall: In den wenigen offiziellen Unterlagen, die bei den Adoptionsentscheiden zu indischen Kindern in den Kantonen Zürich und Thurgau vorlagen, fehlten die Personalien der Eltern wie auch deren Verzichtserklärungen, wie die Analyse von 24 Adoptionsentscheiden aus den Kantonen Zürich und Thurgau ergab.[FN5 Sabine Bitter: Analyse von 24 Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau, in: Andrea Abraham, Sabine Bitter, Rita Kesselring (Hg.): Mutter Unbekannt. Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau, 1973 –2002. Zürich 2024. S. 209-232.]

Ein verlassenes Kind

Das Bezirksgericht in Alipur verlangte von Herrn Voser, das Kind, solange die Adoption in der Schweiz nicht vollzogen war, wieder nach Indien zurückzubringen, wenn ein indisches Gericht dies fordern sollte. Es verpflichtete ihn zudem dazu, den indischen Behörden regelmässige Berichte über das Ergehen und die Entwicklung des Mädchens zu schicken.[FN6 StATG 4'635, 10/13, Erlass (Original) des Bezirksgerichts Alipur, 1.10.1977.] Nach der Gerichtsverhandlung sorgte Milton McCann dafür, dass Amita einen indischen Pass bekam. Darin wurde vermerkt, dass ihr Vater «unbekannt» sei. Für die Mutter fehlte eine entsprechende Rubrik: Mütter wurden damals in indischen Pässen nicht aufgeführt.[FN7 StATG 4'635, 10/13, beglaubigte Kopie des indischen Passes, ausgestellt in Kalkutta am 14.11.1977.]

Anfang Februar 1978 kündigte Milton McCann an, dass Amita in die Schweiz fliegen könne, sofern bis Mitte Monat die Zustimmung einer weiteren indischen Behörde vorliege. Doch diese liess auf sich warten, und die Abreise wurde verschoben. Frau Voser war enttäuscht und liess Terre des hommes in Lausanne wissen, dass ihre Geduld strapaziert werde.[FN8 StATG 4'635, 10/13, Schreiben von Frau Voser an Terre des hommes,13.2.1978.] Darauf bat das Hilfswerk die Indische Botschaft in Genf darum, das Verfahren zu beschleunigen. Dass Druck aufgesetzt wurde, um das Prozedere in der Schweiz voranzutreiben, kam auch auf indischer Seite vor. Mutter Teresa verfasste für die Missionarinnen der Nächstenliebe Kalkutta mehr als einmal ein Schreiben, in dem sie das Bundesamt für Ausländerfragen aufforderte, die Einreiseverfahren zu beschleunigen.

Eigenmächtige Anordnung von Terre des hommes

Die Vosers warteten noch einmal zwei Monate, dann aber ging alles sehr schnell, unerwartet schnell: Terre des hommes in Lausanne teilte ihnen an einem Dienstag im April 1978 schriftlich mit, dass Amita schon am nächsten Tag in Genf-Cointrin landen werde. Der Familie war es nicht möglich, sich so kurzfristig zu organisieren und vom Thurgau nach Genf zu reisen, um das Kind in Empfang zu nehmen.

Dies war allerdings auch nicht vorgesehen: Die Vosers erfuhren ineinem Schreiben, dass Amita vom Flughafen direkt in «Quarantäne» in ein Privatspital im Kanton Genf, ins Hôpital de la Tour in Meyrin, eingewiesen werde. Über allfällige gesundheitliche Probleme des Mädchens wurden sie darin jedoch nicht orientiert.[FN9 StATG 4'635, 10/13, Schreiben von der Adoptionsverantwortlichen von Terre des hommes, an Fam. Voser, 11.4.1978.]

Gemäss einer medizinhistorischen Recherche gab es damals in der ganzen Schweiz keinen Anlass für eine Quarantäne. Mehr noch: Eine solche hätte von Terre des hommes auch gar nicht angeordnet werden dürfen, da diese Massnahme in die Kompetenz des kantonsärztlichen Diensts fiel.[FN10 Iris Ritzmann, Medizinhistorische Fachexpertise zu pädiatrischerFallgeschichte 1978, 2023]

Boom: Adoptionsvermittlung aus Indien

Die Adoptionsverantwortliche von Terre des hommes in Lausanne informierte den Flughafen darüber, dass Amita nach der Landung von einer Stewardess der Air India einer Frau übergeben werde, die das Kind direkt ins Spital bringe. Dabei handelte es sich um Jo Millar die selbst sechs Kinder aus Indien adoptierte und 1979 auch in die Adoptionsvermittlung aus Indien einstieg[FN11 https://www.miblou.org/about.html, Abruf 3.5.2024.]. Zehn Jahre später nahm sie im Flughafen Genf mit medialer Begleitung das 400. indische Kind in Empfang.

Audio

Stimmen von Paaren, die im Flughafen Genf-Cointrin auf ein zukünftiges Adoptivkind warten. Ausschnitt aus der Sendung «Scooter», RTS, 1.10.1989.

O-Ton Eine Frau sagt: «Sag 'bye-bye airplane' (...), 'bye India!'»

Audio

Interview mit Adoptionsvermittlerin Jo Millar, Sendung «Scooter», RTS, 1.10.1989.

O-Ton der Genfer Adoptionsvermittlerin Jo Millar: Das Kind mache Fortschritte, sobald sie es in die Arme nehme.

Während Amita die ersten Tage im Spital verbrachte, informierte Terre des hommes die Thurgauer Fremdenpolizei über ihre Ankunft. Weiter teilte die Adoptionsverantwortliche des Hilfswerks der Vormundschaftsbehörde in der Wohngemeinde der Vosers mit, dass das Mädchen in Indien «adoptiert» worden sei.[FN12 StATG 4'635, 10/13, Schreiben einer Mitarbeiterin, Terre des hommes an die Pflegekinderaufsicht der Vormundschaftsbehörde, 14.4.1978.] Das war eine Fehlinformation: Das Bezirksgericht von Alipur hatte gemäss der indischen Gesetzgebung  nur entschieden, dass Herr Voser Amita in seine Obhut nehmen und in die Schweiz bringen dürfe, wo sie später adoptiert werden sollte.

Das Hilfswerk sichert sich ab

Terre des hommes liess der Vormundschaftsbehörde auch eine Verpflichtungserklärung der Vosers zukommen. Darin versprachen sie, für den Unterhalt zu sorgen, das Kind zu adoptieren oder es auf Lebenszeit anzunehmen, was immer passieren möge. Sie wurden zudem aufgefordert, ein anderes Ehepaar anzugeben, das sich um Amita kümmern würde, falls sie dazu selbst nicht in der Lage wären.[FN13 StATG 4'635, 10/13, Formular «Erklärung», vom Ehepaar Voser ausgefüllt, 1.5.1978.] Damit signalisierte das Hilfswerk, dass die Verantwortung ganz bei der Familie lag und der Entscheid unwiderruflich war.

Weiter garantierten die Vosers in einer Vereinbarung, für «alle öffentlich-rechtlichen Ansprüche, die aus dem Aufenthalt des Kindes (genaue Personalien)» in der Schweiz entstünden, aufzukommen.[FN14 StATG 4'635, 10/13, Beilage «Verpflichtung» vom 13.4.1978 zum Schreiben von Terre des hommes an Pflegekinderaufsicht der Vormundschaftsbehörde, 14.4.1978.] Mit dieser vorgegebenen Klausel sicherte sich das Hilfswerk umfassend ab: Sollten die Schweizer Behörden, etwa beim Adoptionsverfahren, auf amtlich bescheinigten Angaben zum Kind und zu den leiblichen Eltern bestehen, müssten diese von den Pflegeeltern beschafft werden.  

Tatsächlich fehlten die Personalien Amitas von Anfang an. Die Vosers fragten deshalb bei Terre des hommes nach: «Leider ist uns das genaue Geburtsdatum unbekannt.»[FN15 StATG 4'635, 10/13, Schreiben von Frau Voser an Terre des hommes (undatiert, der Verpflichtungserklärung vom 14.4.1978 beigelegt).] Die Familie erfuhr dann, dass das Kind etwa zwei Jahre alt sei. Die in den Formularen aufgeführten Rubriken «Geschlechtsname» und «Geburtsort» wiesen mit den Einträgen «Unbekannt» Lücken aus. Die Vosers übernahmen also eine Reihe von Verpflichtungen für ein Kind, dessen Identität gänzlich ungeklärt war.

Kinder als «Versuchskaninchen»?

Milton McCann, der für Terre des hommes in Lausanne Kinder zur Adoption in die Schweiz vermittelte, geriet wenige Monate nach Amitas Ankunft, im Sommer 1978, zusammen mit Mutter Teresas Missionarinnen der Nächstenliebe ins Visier indischer Ermittlungsbehörden. Gemeinsam wurden sie in einer indischen Zeitung verdächtigt, Kinderhandel zu betreiben und 18 Kinder – darunter Amita – in die Schweiz vermittelt zu haben, die dort zu Forschungszwecken benutzt würden.

PDF

Brief des Schweizer Botschafters in Indien an das Staatsekretariat in Bern: Adoption indischer Kinder in der Schweiz. Anschuldigung einer Zeitung aus Kalkutta.

Der Vorwurf, die indischen Kinder müssten in der Schweiz als «cobayes de recherche», als «Versuchskaninchen» für die Forschung herhalten, löste eine diplomatische Krise zwischen den beiden Ländern aus. Der Vorwurf an die Adresse von Terre des hommes ist im Zusammenhang mit der vom Hilfswerk praktizierten routinemässigen Einweisung von Kindern in «Quarantäne» zu sehen: Der Fall von Amita zeigt exemplarisch, dass das Kind im Spital tatsächlich in eine pharmakologische Testreihe einbezogen wurde, die der Forschung diente. Allerdings handelte es sich dabei nicht um einen Menschenversuch[FN16 Iris Ritzmann, Medizinhistorische Fachexpertise zu pädiatrischer Fallgeschichte 1978, 2023.], wie die Wortwahl «Versuchskaninchen» der indischen Presse suggerierte.

Die indischen Behörden verlangten von den Missionarinnen der Nächstenliebe die Adressen der Schweizer Paare, für welche die 18 Kinder bestimmt gewesen waren. Sie kündigten an, ein Detektivteam in die Schweiz zu schicken, um herauszufinden, wie es den Kindern in der Schweiz ging.[FN17 https://dodis.ch/52022, Abruf 3.5.2024.] Von Milton McCann erfuhr die Schweizerische Botschaft, dass das Zentrum von Terre des hommes in Kalkutta schon zweimal von der Polizei inspiziert worden sei.[FN18 https://dodis.ch/52022, Abruf 3.5.2024.] Dass Vertreter von indischen Behörden in der Schweiz weitergehende Recherchen angestellt hätten, geht aus der Korrespondenz zwischen den beiden Ländern allerdings nicht hervor. Versucht wurde vielmehr, die Wogen diplomatisch zu glätten: Das Indische Konsulat in Genf lud mit Unterstützung von Terre des hommes die betreffenden Eltern und die indischen Kinder zu einem Divali-Fest nach Genf ein, um sich auf diese Weise diskret über die Befindlichkeit der Kinder zu erkundigen.[FN19 StATG 4'635, 10/13, Schreiben von einer Mitarbeiterin, Terre des hommes, an Fam. Voser, September 1978 (nicht genauer datiert)]

Entlassung wegen Pädophilieverdacht

Terre des hommes Lausanne führte die Zusammenarbeit mit den Missionarinnen der Nächstenliebe und Milton McCann trotz dieser Affäre weiter. Allerdings kam es Jahre später, 1996, zum Bruch mit McCann, dem Pädophilie vorgeworfen wurde. Das Hilfswerk trennte sich von ihm und strengte ein Gerichtsverfahren an, das aber bis zum Tod des Mannes 2011 nicht zu Ende geführt wurde. Heute distanziert sich das Hilfswerk von der Kooperation mit McCann und betont, dass Terre des hommes (India) Society juristisch eine «völlig unabhängige Organisation» gewesen sei.[FN20 Schreiben von Terre des hommes an Forschungsteam, 9.1.2023.]

Audio

Adoption und Gesundheit: ein Gespräch zwischen Andrea Abraham, Nadine Gautschi, Sarah Ineichen und Rita Kesselring, 25.01.2024, Bern.