Kunti mit ihrem unehelichen Sohn Karna im Epos Mahabharata, verlassene und verlassende Ehefrauen, nicht akzeptierte Schwiegertöchter und gesellschaftlich unmögliche Liebesgeschichten im indischen Film: Trotz der idealtypischen Verbindung von Mutterschaft und Ehe wurden ledige Mütter in der indischen Geschichte nie ausgeblendet, sondern erschienen in Literatur und Film als Protagonistinnen.
Im Folgenden stellen wir einige herausragende Beispiele vor.
Ms Sarah Welch, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons
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Kunti und Karna in der Mahabharata
Das älteste Beispiel stellt die im altindischen Epos Mahabharata dargestellte Kunti mit ihrem unehelichen Sohn Karna dar, welches im Laufe der Jahrhunderte rezipiert und interpretiert wurde. Beispielsweise verfasste der indische Dichter Rabindranath Tagore 1900 eine zeitgenössische Interpretation des Schicksals von Kunti und Karna in poetischer Dialogform, welches seither breit rezitiert wurde.

Englische Übersetzung des von Rabindranath Tagores 1900 verfassten poetischen Dialogs «Karna Kunti Sangbad» zwischen der unverheirateten Mutter Kunti und ihrem Sohn Karna aus dem altindischen Epos Mahabharata. Quelle: www.parabaas.com
Aber auch im indischen Film stellte die alleinstehende Mutter eine beliebte Hauptprotagonistin dar, begonnen beim Film «Mother India» (1957)[FN1 https://www.youtube.com/watch?v=s0qTPjUkR6I], über «Mamta» (1966)[FN2 https://www.youtube.com/watch?v=o48ym6-gxDc], «Aradhana» (1969)[FN3 https://www.youtube.com/watch?v=pAcWUhfjt4s], «Julie» (1975)[FN4 https://www.youtube.com/watch?v=8UK_8_SLDAQ] und viele weitere.[FN5 Für eine umfassende Zusammenstellung von Filmen zur unehelichen, indischen Mutter siehe z.B.https://www.womensweb.in/2020/05/single-mothers-in-hindi-films-may20wk1sr/, für eine Auseinandersetzung mit dem Mythos der Mutter im indischen Film siehe: Chatterji, Shoma A. (2020). Myth, Motherhood, and Mainstream Hindi Cinema. In Zinia Mitra (Hrsg.), TheConcept of Motherhood in India. Myths, Theories and Realities (S. 27-41). Cambridge Scholars Publishing.]

Radha, die verlassene Ehefrau in «Mother India» (1957)
Radha lebt mit ihrem Ehemann und ihrer Schwiegermutter im ruralen Indien. Als sie mit ihrem vierten Sohn schwanger ist, wird sie von ihrem Ehemann verlassen. Schulden, die mit der Finanzierung der Hochzeit in Verbindung stehen, belasten die Familie schwer. Die armutsbetroffene Radha versucht in ihrem Dorf ihre Söhne grosszuziehen und muss sich hart arbeitend gegen zahlreiche soziale und umweltbedingte Widrigkeiten wie Dürre und Überschwemmung wehren. Vom Schuldeneintreiber wird sie bedroht und vergewaltigt. Im Laufe ihres Überlebenskampfs verliert sie zwei ihrer Söhne und bringt einen dritten Sohn um, um einer Frau das Leben zu retten.

Film «Mother India» (1957) von Regisseur und Produzent Mehboob Khan, Zeitmarke: 1:04:41,https://www.youtube.com/watch?v=s0qTPjUkR6I
Deviyani, die verlassene Ehefrau in «Mamta*» (1966)
Monish Rai stammt aus einer wohlhabenden Familie und ist in Deviyani verliebt, die in armen Verhältnissen lebt. Monish muss ins Ausland reisen, um sein Jurastudium fortzusetzen, verspricht aber, mit Deviyani in Kontakt zu bleiben. Nach seiner Abreise haben Deviyani und ihr Vater finanzielle Probleme. Sie bittet Monishs Mutter um Unterstützung, die ihr jedoch verweigert wird. In ihrer Verzweiflung verheiratet ihr Vater sie mit einem viel älteren Mann, der Alkoholiker ist und häufig Prostituierte aufsucht. Deviyani wird von ihm schwanger und bringt ein kleines Mädchen zur Welt, Suparna. Unzufrieden mit ihrer Ehe und ihren Lebensumständen läuft sie mit ihrer Tochter weg. Sie wendet sich in einem Kloster an die Nonne Mutter Maria, überlässt Suparna ihrer Obhut und verschwindet für immer.
*Mamta ist Hindi und bedeutet «Mutterliebe».

Film «Mamta» von Regisseur Asit Sen, produziert von Charu Chitra (1966) Quelle: imdb.com
Vandana, die nicht akzeptierte Schwiegertochter in «Aradhana» (1969)
Die in Westbengalen angesiedelte Geschichte handelt von der Liebesbeziehung zwischen dem Luftwaffenoffizier Arun und Vandana, der Tochter eines Arztes. Sie heiraten in einem Tempel ohne Zeugen. Wenige Tage später stirbt Arun. Vandana erfährt, dass sie schwanger ist und will ihr Kind behalten. Ihr Vater versucht sie umzustimmen und unterstützt sie schliesslich jedoch in ihrem Vorhaben. Aruns Familie akzeptiert sie jedoch nicht als Schwiegertochter. Als auch noch ihr Vater stirbt, ist Vandana mit ihrer Schwangerschaft auf sich allein gestellt. Nach der Geburt ihres Sohnes Suraj rät ihr eine Ärztin, das Kind in einem Kinderheim abzugeben und es am nächsten Tag legal zu adoptieren. Suraj wird aber zwischenzeitlich von einem Ehepaar adoptiert. Entschlossen, an seinem Leben teilzuhaben, nimmt Vandana die Rolle als sein Kindermädchen an. Suraj weiss bis ins Erwachsenenalter nicht, dass Vandana seine leibliche Mutter ist. Erst viele Jahre später findet er heraus, wer seine Eltern sind. Der Film endet mit Surajs Anerkennung der Opfer, die seine Mutter für ihn erbracht hat, und feiert ihre Stärke und ihren Mut.
Vandana erzählt ihrem Vater von ihrer Schwangerschaft. Quelle: YouTube
Vandanas Vater bittet um ihre Anerkennung als Familienmitglied in Aruns Familie. Quelle: YouTube
Vandana trennt sich nach der Geburt von ihrem Sohn. Vandana legt das Kind mit Hilfe der Ärztin schweren Herzens vor einem Kinderheim ab, dies mit dem Plan, es am nächsten Tag adoptieren zu gehen. Quelle: YouTube
Foto von Andrea Abraham, April 2023

Julie, die als Christin von einem hinduistischen Mann schwanger wird in «Julie» (1975)
Julie ist eine christliche, anglo-indische Frau, die sich in Shashi verliebt, den Bruder ihrer besten Freundin. Anders als sie stammt er aus einer hinduistischen Familie. Julie wird von ihm schwanger. Shashi zieht für seine weitere Ausbildung in eine andere Stadt, ohne von ihrem Zustand zu erfahren. Ihre Mutter ist verzweifelt, als Julie ihr von der Schwangerschaft erzählt. Dem Rest der Familie sagen sie nichts. Ihre Mutter denkt über eine Abtreibung nach, die sie aber aus christlich-moralischen Gründen als Option verwirft. Sie schickt Julie weg, damit sie ihr Kind heimlich zur Welt bringt. Der Familie erzählen sie, dass Julie an einem entfernten Ort einen Job gefunden hat. Nach der Geburt begleitet die Mutter Julie in eine christliche Institution, um das Kind zur Adoption freizugeben. Als Julie wieder nach Hause zurückkehrt, trifft sie Shashi und erzählt ihm alles. Er willigt ein, sie zu heiraten. Seine Mutter ist jedoch gegen die interreligiöse Ehe. Sie weiss nichts von dem heimlich geborenen Kind. Auch Julies Mutter unterstützt die Heirat nicht, da sie und der Rest der Familie nach England gehen wollen. Erst als Shashis Mutter von der Geburt erfährt, ändert sie ihre Meinung und es kommt mit ihrer Hilfe zur interreligiösen Eheschliessung. Julie und Shashi werden von ihren Familien darin unterstützt, ihr Kind gemeinsam aufzuziehen.
Die christliche Julie muss sich von ihrem Kind trennen, obschon sich der hinduistische Kindsvater für eine Ehe mit Julie bereit erklärt hat. Quelle: YouTube
Literatur- und Filmbeispiele zeigen, dass alleinstehende Mütter – seien sie verlassen, verwitwet oder unverheiratet – ein altes indisches Motiv darstellen. Während in diesen fiktionalen Geschichten Handlungsspielräume ausgelotet und die Frauen als Heldinnen repräsentiert werden, die eine Adoption verhindert oder rückgängig gemacht haben oder sich später in ihrem Leben wieder mit ihren Kindern vereinigten, scheint dies in der Realität deutlich komplexer zu sein: Die Forschungen von Pien Bos[FN7 Bos, Pien (2024). Ein Kind weggeben. Die Sicht indischer Mütter. In Andrea Abraham, Sabine Bitter & Rita Kesselring (Hrsg.),Mutter unbekannt. Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau, 1973–2002 (S. 29-52). Chronos], Andrea Abraham und Asha Narayan Iyer[FN8 Abraham, Andrea & Narayan Iyer, Asha (2024). Die uneheliche Mutter als Stigma. Eine ethnografische Recherche in Indien. In Andrea Abraham, Sabine Bitter & Rita Kesselring (Hrsg.), Mutter unbekannt. Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau,1973–2002 (S. 53-74). Chronos.] in Indien haben gezeigt, dass in den 1970er bis 2000er Jahren kaum eine alleinstehende Mutter ihr Kind behalten konnte. Diese weitgehende Tabuisierung der leiblichen Mütter in den indischen Adoptionsprozessen und -diskursen steht ihrer fiktionalen Darstellung kontrastreich gegenüber.[FN9 Abraham, Andrea (2024). Indische Mütter ausgeblendet. Lücken, Vermutungen und Unschärfen. In Andrea Abraham, Sabine Bitter &Rita Kesselring (Hrsg.), Mutter unbekannt. Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau, 1973–2002 (S. 75-97). Chronos.]