Eine junge indische Mutter hält ein kleines Baby in den Armen.

Das Kind behalten

Die 22-jährige Sundari[FN1 Die ausführliche Fallgeschichte von Sundari kann im folgenden Beitrag nachgelesen werden: Bos, Pien (2024). Ein Kind weggeben. Die Sicht indischer Mütter. In Andrea Abraham, Sabine Bitter & Rita Kesselring (Hrsg.) (2024). Mutter unbekannt. Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau, 1973–2002 (S. 29-52). Chronos. Über ihre Forschung erzählt Pien Bos zudem in einem Video, welches an einem gemeinsamen Workshop an der Universität St. Gallen 2023 entstanden ist.] (Name geändert) gehört der christlichen Nadar-Gemeinschaft an. Ihre Mutter hat für sie bereits eine Ehe arrangiert, als sich Sundari in einen Mann verliebt, der in der gleichen Fabrik arbeitet. Ein Jahr lang führen sie eine Liebesbeziehung. Sie sprechen über Heirat und träumen von einer gemeinsamen Zukunft, obwohl Sundari weiss, dass sie sich ihren Bräutigam nicht selbst aussuchen dürfte, und dass der Mann, in den sie sich verliebt hat, wegen seiner religiösen Zugehörigkeit (Hindu) und seiner Kastenzugehörigkeit (Dalit) für ihre Mutter niemals akzeptabel sein wird. Als Sundari schwanger wird, löst dies in ihrem Leben ein Chaos aus.

Behalten oder weggeben?

Sundaris Mutter reagierte emotional und gewaltvoll auf die Nachricht der Schwangerschaft, brach die Hochzeitsverhandlungen mit dem ausgewählten Bräutigam jedoch nicht ab. Für eine legale Abtreibung war es bereits zu spät. So beschloss die Mutter, ihre schwangere Tochter in eine Institution für unverheiratete Mütter (Shelter) zu bringen, bis sie ihr Kind geboren hatte, und es dann zur Adoption freizugeben.

Sundari fügte sich ihrer Mutter, trat in den Shelter ein, aber überlegte sich, ob es trotz allem möglich wäre, das Kind zu behalten. Sie rechnete damit, vom eigentlich vorgesehenen Ehemann verstossen zu werden. In diesem Fall würde sie ihr Kind zurückfordern und alleine mit ihm  zusammenleben. Ihre grösste Sorge bei dieser Variante war jedoch der Zeitfaktor: Offiziell standen ihr nach der Niederkunft zwei Monate für die Rückforderung ihres Kindes zur Verfügung, aber sie ging davon aus, dass sie bis zu sechs Monate brauchen würde, um sich zu entscheiden. Sie hoffte einfach, dass das Kind lange genug im Heim bliebe, bis sich ihr Leben entweder bei ihrer Mutter oder im Haushalt ihres zukünftigen Mannes stabilisiert hätte.

Das Shelter Shraddhanand Mahilashram in Mumbai bietet Frauen und Kindern in Not seit 1927 Unterstützung an. Bildquelle: Andrea Abraham und Sabine Bitter, Februar 2024.

Geburt - und wie weiter?

Sundari hatte eine schnelle und natürliche Geburt. Das auf die Welt gekommene Mädchen war winzig, wog kaum zwei Kilo und hatte eine leicht gelbliche Hautfarbe.[FN2 Zum Zusammenhang von Adoption und Gesundheit steht unterhalb dieses Abschnitts ein Gespräch zwischen Andrea Abraham, Nadine Gautschi, Sarah Ineichen und Rita Kesselring zur Verfügung.] Sundari machte sich Sorgen. Zwei Wochen nach der Entbindung kam ihre Mutter zu Besuch. Diese hatte beschlossen, bei den Hochzeitsvorbereitungen offen über Sundaris Vergangenheit zu sprechen und die andere Familie über ihren Rückzug zu informieren. Dennoch beschäftigte sich Sundaris Mutter weiterhin mit der Zukunft ihrer Tochter und wollte sie mit einem anderen Mann verheiraten. Das Kind jedoch schloss sie aus diesen Plänen von vornherein aus.

Audio

Adoption und Gesundheit: ein Gespräch zwischen Andrea Abraham, Nadine Gautschi, Sarah Ineichen und Rita Kesselring, 25.01.2024, Bern.

Niemand im Umfeld des Shelters unterstützte Sundaris ursprüngliche Pläne, das Kind irgendwann einmal zurückzubekommen. Ausserdem war sie nach der Geburt zu müde, um sich den Autoritätspersonen zu widersetzen, und beschloss, dass es besser für ihre Wiedereingliederung in die Familie und ihre Zukunft sei, das Kind abzugeben.

Drei Monate nach der Geburt packte Sundari ihre Sachen, um den Shelter zu verlassen. Die Formalitäten waren erledigt, die Verzichtserklärung unterschrieben.

Auf Sundaris Austritt, welcher mit dem Zurücklassen des Kindes einherging, folgte die schwere Erkrankung ihres Kindes: Wenige Tage nach dem Abstillen bekam es Durchfall und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Die Erkrankung stellte sich als lebensbedrohliche Blutvergiftung heraus. Das Kind überlebte nicht, wie die Forscherin Pien Bos weiss. Ob Sundari jemals vom Tod ihres Kindes erfahren hat, ist ihr nicht bekannt.

Sundari unterschreibt den Übergabevertrag. Foto: Pien Bos, Chennai 2003.

Sundari unterschreibt den Übergabevertrag. Foto: Pien Bos, Chennai 2003.

Bedingung: Unterstützung durch die Herkunftsfamilie

Ob eine ledige Mutter wie Sundari, die ihr Kind behalten wollte, dazu auch die Möglichkeit hatte, hing unter anderem von der Unterstützung ihrer Familie ab: War die Familie bereit und in der Lage, dies auf sich zu nehmen? Pritha Somnath (Name geändert), die Andrea Abraham und Asha Narayan Iyer 2023 in Mumbai interviewt haben, arbeitet seit den 1990er Jahren in Indien als Sozialarbeiterin. Sie erinnert sich an Frauen, die im Gegensatz zu Sundari und dem Grossteil anderer lediger Mütter auf die Unterstützung ihrer Familie zählen konnten. Sie blieben auch ausserhalb eines Eheverhältnisses mit ihrem Kind vereint:

«Manchmal behalten sie ihr Kind und entscheiden sich dafür, weil […] es jemanden in ihrer Familie gibt, der sie unterstützt. Für eine Frau ist es sehr schwierig, allein zu leben. Wenn man also kein Netzwerk zur Selbsthilfe hat... aber ich hatte Familien, in denen die Väter [der Frauen] sagten: ‘Nein, nein, das ist paap, das ist Sünde, sein Kind einfach so wegzugeben. Man kümmert sich um seine eigenen Nachkommen, man gibt sie nicht einfach weg.’ Es gibt also Menschen, die so sind. […]»

Es wird in Pritha Somnaths Aussage deutlich, dass die jungen Frauen keine Entscheidungsautonomie hatten, sondern dass die Entscheidungsmacht bei ihren Eltern lag: Wenn eine junge Frau ihr Kind behalten wollte, so entschieden ihre Eltern darüber, ob dies möglich war oder nicht.

Sundari hält ihr Baby im Arm, kurz bevor sie die Übergabeurkunde unterzeichnet. Foto: Pien Bos, Chennai 2003.

Sundari hält ihr Baby im Arm, kurz bevor sie die Übergabeurkunde unterzeichnet. Foto: Pien Bos, Chennai 2003.

Möglichkeit: Das Kind durch Heirat behalten können

In den Familien herrschte dabei oftmals die Hoffnung, dass die ledige Mutterschaft nur zeitlich begrenzt wäre und sich der Kindesvater für eine Ehe mit der Kindesmutter entscheiden wird. Pritha Somnath erinnert sich:

«Und es gibt auch die Hoffnung, dass sie sich mit dem Mann, dessen Kind es ist, wieder vereinen wollen. Es gibt also eine gewisse Hoffnung auf eine Versöhnung mit einer Beziehung und wenn der Mann gesagt hat ‘ja, ich akzeptiere dich’. Damit das Kind dann nicht aufgegeben wird und wir sehen, dass die Familie wieder eine Einheit werden kann.»

Die Wahrscheinlichkeit, das Kind zu behalten, erhöhte sich also über die Herstellung eines Eheverhältnisses. Dies konnte der Fall sein, weil sich der leibliche Vater des Kindes zum Kind bekannte, sei es auf Initiative der Familie oder auf Vermittlungsarbeit einer Adoptionsvermittlungsstelle (Agency) hin.[FN3 Dabir, Neela (1994). A study of a shelter home for women in distress. Mumbai: SNDT Women’s University Mumbai. S. 163. https://shodhganga.inflibnet.ac.in:8443/jspui/handle/10603/161291] Kinjal Sethi[FN4 Andrea Abraham und Asha Narayan Iyer haben Kinjal Sethi während ihres Forschungsaufenthalts in Indien im April 2023 interviewt.] (Name geändert), welche ab den 1970er Jahren eine Agency betrieb, bezeichnete sich hinsichtlich solcher Arrangements als Pionierin:

«Wir sind eine der wenigen Einrichtungen, die es tatsächlich geschafft haben, die leibliche Mutter und den Vater zu verheiraten. Nicht unbedingt immer die glücklichste Ehe, aber immerhin kamen sie zusammen, um das Kind anzuerkennen und all das.»

In den Aussagen kommt zum Ausdruck, dass eine glückliche Beziehung nicht das oberste Ziel eines solchen Arrangements war, sondern dass es eher funktionale Gründe hatte. Es ging darum, dass die Ehe sowohl eine Stigmatisierung der Frau als auch die Weggabe des Kindes vermeiden würde und für beide einen gemeinsamen Lebensort schuf. Diese Arrangements zur Überführung der Affäre in ein Eheverhältnis mit Hilfe von Institutionen gelangen indes nur, wenn beide Personen und insbesondere ihre Familien zustimmten, der Mann noch nicht verheiratet war, die Religions- und Kastenzugehörigkeit als kompatibel erachtet wurde und der Mann als verlässlich galt, so dass er für die ökonomische Sicherheit der Familie sorgen konnte.  Manchmal waren zudem auch kreative Umwege nötig, damit die leiblichen Eltern ihr Kind behalten konnten. So erzählt die ehemalige Agency-Mitarbeiterin Shilpi Alagh (Name geändert) Andrea Abraham und Asha Narayan Iyer von einem Paar, welches ihr eigenes Kind adoptierte. Das Paar hatte eine Liebesaffäre, aus der die Frau schwanger wurde. Sie brachte das Kind heimlich zur Welt. Das Kind lebte in der Agency, bis die Eltern heiraten und danach ihr eigenes Kind adoptieren konnten. Gegen aussen wurden sie somit als ein Ehepaar gesehen, das keine leiblichen Kinder haben konnte und deshalb ein Kind adoptierte. Eigentlich handelte es sich aber um eine biologisch miteinander verbundene Familie.

Tragisch endende Familien-Arrangements

Während dieses Beispiel auf den von Mutter und Vater geteilten Wunsch verweist, als Familie zu leben, konnten die arrangierten Zusammenführungen von Mutter, Vater und Kind auch zu grossem Leid führen und misslingen. Gerade wenn eine Schwangerschaft auf gewaltvolle Weise zustande gekommen war, konnte eine Zusammenführung zu einer Fortführung oder gar Eskalation der Gewalt führen. Pritha Somnath beschreibt eine solche Zusammenführung in den 1990er Jahren, die sie als damals noch unerfahrene Sozialarbeiterin erwirkt hat und rückblickend bereut:

"Ich erinnere mich an eine muslimische Frau, die als Obdachlose in einem Korridor eines Gebäudes lebte. Sie wurde von mehreren Leuten sexuell missbraucht. Schliesslich wurde sie von einem Mann schwanger. Sie kam zu mir, als sie im siebten oder achten Monat schwanger war. Ich erinnere mich, dass ich sehr wenig Zeit hatte, diesen Mann zu finden.  [...] Und ich habe diesen Mann dazu gebracht, sie zu heiraten. Das war dumm von mir. Ich hätte ihr einfach eine Arbeit vermitteln sollen. [...]. Aber ich war damals zu jung, um das zu verstehen. [...] Sie haben tatsächlich geheiratet. Sie war ein Mensch mit niedrigem IQ. [...] Ich habe sie in einer Einrichtung untergebracht, damit sie das Kind zur Welt bringen konnte. Danach trat sie mit dem Kind aus, weil sie mit diesem Mann verheiratet war. Ich dachte, ich hätte sie in Sicherheit gebracht. Sie war jung, 17, 18, 19 Jahre alt [...]. Und schliesslich nahm dieser Mann das Kind in einem Fernzug mit und tötete es. Das war meine Einschätzung, als sie mit dem toten Kind kam. Er hat das Kind wohl erstickt und es ihr anschliessend gegeben. Danach ist er aus ihrem Leben verschwunden. Auch sie ist nicht mehr zu mir zurückgekommen. Ich konnte sie nicht an ihrem Platz finden. [...] Ich glaube, das ist mein grösstes Versagen. Ich hätte sie zur Entbindung einfach in eine gute Einrichtung vermitteln sollen. Wäre sie nicht mit diesem Mann zusammen gewesen, wäre alles ganz anders gelaufen. Und sie hätte ihr Kind erleichtert zur Adoption freigegeben."

Heiraten und heimlich schwanger

Nebst diesen Bestrebungen, das intime Verhältnis der Eltern in eine Ehe zu überführen, damit sie ihr Kind in einem sozial anerkannten Gefüge aufziehen konnten, gab es auch Versuche, eine Frau mit einem Mann zu verheiraten, der nicht der leibliche Vater des Kindes war. Dies konnte etwa auf verdeckte Weise geschehen, wenn Eltern versuchten, ihre schwangere Tochter zu verheiraten, ohne die Schwangerschaft offenzulegen. Einen transparenteren Weg boten manche Ehevermittler*innen oder die Heiratsvermittlung durch Shelters wie z.B. das Shraddhanand Mahilashram. Das Ziel dieser Dienste war es, Frauen in Notlagen durch eine vermittelte Heirat sozial und ökonomisch zu «rehabilitieren». In seltenen Fällen zeigten sich die Männer bereit, dass die Frau ihr Kind bzw. ihre Kinder mit in die Ehe nahm.

Die Forschungen von Pien Bos, Andrea Abraham und Asha Narayan Iyer[FN5 In Andrea Abraham, Sabine Bitter & Rita Kesselring (Hrsg.) (2024). Mutter unbekannt. Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau, 1973–2002. Chronos.] haben gezeigt, dass im Indien der 1970er bis 2000er Jahren kaum eine alleinstehende Mutter ihr Kind behalten konnte. Die weitgehende Tabuisierung der leiblichen Mütter in den indischen Adoptionsprozessen und -diskursen steht ihrer fiktionalen Darstellung gegenüber: Literatur- und Filmbeispiele zeigen, dass alleinstehende Mütter – seien sie verlassen, verwitwet oder unverheiratet – ein altes indisches Motiv darstellen. Während in diesen fiktionalen Geschichten Handlungsspielräume ausgelotet und die Frauen als Heldinnen repräsentiert werden, die eine Adoption verhindert oder rückgängig gemacht haben oder sich später in ihrem Leben wieder mit ihren Kindern vereinigten, war die Realität deutlich komplexer.