Fehlende Verzichtserklärungen

Im April 1973 traten die revidierten Bestimmungen des Adoptionsrechts in Kraft, das im Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) erstmals 1907/1912 verankert worden war.[FN1 Bundesgesetz vom 30. Juni 1972 über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Adoption und Art. 321), in Kraft ab 1.4.1973. Vgl. dazu: https://www.fedlex.admin.ch/eli/oc/1972/2819_2873_2653/de sowie Erläuternder Bericht zur Änderung des Zivilgesetzbuches zum Adoptionsrecht, 9.12.2013, in: https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/80032.pdf.] Die neuen Bestimmungen folgten einer Neukonzeption: Bisher war ein Adoptivkind durch das Besuchsrecht seiner leiblichen Eltern und durch das Erbrecht an diese gebunden geblieben. Dies wurde jedoch zunehmend kritisiert: Adoptivkinder könnten auf diese Weise nicht genügend aus der angestammten Familie gelöst und nicht ausreichend in die neue integriert werden. Deswegen wurde das bisherige Konzept der «einfachen Adoption» bei der Revision 1972 durch eine «Volladoption» ersetzt. Dabei wurde ein Kind ganz aus seiner Herkunftsfamilie herausgelöst und erhielt in der Adoptivfamilie die gleichen Rechte wie ein leibliches Kind. Diese Abkoppelung wurde mit dem neu eingeführten «Adoptionsgeheimnis» verankert. Die leiblichen Eltern durften jetzt nicht mehr erfahren, wer ihr Kind adoptierte.

Trotz der Neukonzeption blieb ein Grundsatz des Adoptionsrechts bestehen: Beide leiblichen Elternteile musste ihr Einverständnis zur Adoption geben und eine Verzichtserklärung unterschreiben. Nur im Ausnahmefall konnte von der Zustimmung von einem der beiden Elternteile abgesehen werden. Wie die Untersuchung von 24 Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau zeigt, wurde diese gesetzliche Vorgabe nicht erfüllt. Die Verzichtserklärung der indischen Eltern fehlte in jedem Fall.[FN2 Sabine Bitter: Analyse von 24 Adoptionen in den Kantonen Zürich und Thurgau. In: Andrea Abraham, Sabine Bitter, Rita Kesselring (Hg.): Mutter unbekannt. Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau, 1973–2002. Zürich 2024. S. 225–229.] Dieser Befund tritt auch auf weitere 24 Thurgauer Fälle zu. Insgesamt wurden in den beiden Kantonen 48 Adoptionsentscheide identifiziert, bei denen die Verzichtserklärungen der Eltern fehlen. Diese Dokumente seien in den Archiven der indischen Gerichte bis heute für alle Beteiligten unzugänglich unter Verschluss, sagt der indische Adoptionsanwalt Rakesh Kapoor im Interview.[FN3 Asha Narayan Iyer: Rechtliche Bestimmungen und Rechtspraxis. Internationale Adoptionen in Indien, in: Andrea Abraham, Sabine Bitter, Rita Kesselring (Hg.): Mutter unbekannt. Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau, 1973–2002, Zürich 2024, S. 111.] Dass diese Dokumente im Land zurückbehalten wurden, hatte demnach System: Es war von indischer Seite nicht vorgesehen, dass Schweizer Adoptionsvermittlungsstellen und Behörden die Verzichtserklärungen der indischen Eltern zur Adoption ihres Kinds zu Gesicht bekamen. Die Zürcher Bezirksräte und Thurgauer Regierungsräte, die in den beiden Kantonen über Adoptionen entschieden, hätten diese Dokumente aber einfordern müssen, um die gesetzlichen Bestimmungen gemäss Schweizer Adoptionsrecht zu erfüllen. Stattdessen verliessen sie sich auf Papiere, die indische Vermittlungsstellen wie etwa die Institutionen von Mutter Teresa selbst anfertigten. Die Ordensschwestern gaben darin an, dass die Mutter auf das Kind verzichtet oder es ausgesetzt habe und deshalb keine Dokumente vorhanden seien. Die Schweizer Behörden bestanden nicht auf den gesetzlich geforderten Verzichtserklärungen. Nur selten thematisierten sie das Fehlen dieses Dokuments. Vielmehr reichte  die eine Behörde die Erklärung, dass die Mutter «unbekannt» oder das Kind «elternlos» sei an die nächste Stelle im föderalen System weiter. Diese Vorgehensweise blendete die Notlagen und Rechte der leiblichen Mütter weitgehend aus.[FN4 Anja Sunhyun Michaelsen: Vom Verschwinden im postkolonialen Adoptionsarchiv. Südkorea – Westdeutschland, 1964/1979, in: In unsere Mitte genommen. Adoption im 20. Jahrhundert, Göttingen 2022, S. 109.]

Quellen / Literatur