Rameshwari, eine uneheliche Mutter und Bewohnerin des Shelters Asha Kendra in Kalkutta, 1986

Ledige Mütter

Als Mona, eine 18-jährige Frau der ethnischen Gruppe der Oriya[FN1 Die Odia (frühere Bezeichnung Oriya) sind eine indo-arische ethnische Gruppe, deren Ursprungsort der an der indischen Ostküste gelegene Bundesstaat Odisha ist.] im Sommer 1986 in Asha Kendra, einer Institution für notleidende Frauen (Shelters) in Kalkutta, ankommt, weint sie untröstlich. Sie weiss nicht, wie sie jemals wieder ein normales Leben führen soll. Sie war am damals grössten Bahnhof Indiens, der Howrah railway station, von ihrem Freund verlassen worden, als sie ihm von ihrer Schwangerschaft erzählte. Mona hatte sich erhofft, ihn zu heiraten. Ihre Verwandten, denen sie danach von ihrer Situation erzählte, verstiessen Mona ebenfalls. So sah Mona keine andere Möglichkeit, als sich in ein Shelter zu begeben.

Mona und eine andere unehelich schwangere Bewohnerin des Shelters Asha Kendra in Kalkutta,  1986

Dort verbringt sie ihre weitere Schwangerschaft und bringt im Oktober 1986 ihr Kind zur Welt. Das Hilfswerk International Mission of Hope (IMH)[FN2 1977 gründete die von Mutter Teresa inspirierte US Amerikanerin Cherie Clark in Kalkutta das Hilfswerk International Mission of Hope (IMH) und vermittelte während 12 Jahren Kinder an adoptionswillige europäische und US-amerikanische Paare. An den Standorten Kalkutta und Madras betrieb das Hilfswerk Shelters für unehelich schwangere Frauen.], das sowohl das Shelter als auch ein Kinderheim mit Adoptionsvermittlung betreibt, unterstützt die meist jungen Frauen dabei, nach der Geburt in die Gesellschaft zurückzukehren . Dazu gehört jedoch, dass sich die Mütter von ihren Kindern trennen, die das Hilfswerk an adoptionswillige ausländische Ehepaare vermittelt. So ist es auch bei Mona.

Über Mona und andere Frauen, die das Shelter unehelich schwanger aufsuchten, berichtete 1986 die indische Zeitung India Today.[FN3 India Today, Tragedy of the Unwed Motherhood in India (Aufruf 13.6.2024.)]

Pflege von Babys, welche das Hilfswerk International Mission of Hope an adoptionswillige, ausländische Ehepaare vermittelte. Kalkutta, 1986.

Trennung von Müttern und Kindern

Indische Mütter trennten sich zwischen den 1970er und 2000er Jahren aus unterschiedlichen Gründen von ihrem Kind. Viele taten es wegen Armut, wegen gesundheitlichen Einschränkungen ihrer selbst (z.B. AIDS) oder ihres Kindes, weil das Kind ein Mädchen war[FN4 Die Präferenz für Söhne wird in der indischen Literatur mitunter durch Vererbungslinien, Wegfallen einer Mitgift bei Heirat, Patrilokalität und Unterstützung durch den Sohn und dessen Familie im Alltag und im Alter, begründet.], oder weil sie inhaftiert waren. Der meistgenannte Grund war jedoch die «unwed mother», die alleinstehende, schwangere Frau oder unverheiratete Mutter.

Rameshwari, eine unverheiratete Mutter und Bewohnerin des Shelters Asha Kendra in Kalkutta, 1986

Wie in der Schweiz und anderen europäischen Ländern, wurden unehelich schwangere Frauen und ledige Mütter im 20. Jahrhundert auch in Indien als «gefallene Frauen» bezeichnet. Sie erlebten soziale Ächtung und strukturelle Diskriminierung. Rashmi Parmar (Name geändert), eine feministische indische Aktivistin, beschreibt deren Situation in einem Interview[FN5 Abraham, Andrea & Narayan Iyer, Asha (2024). Die uneheliche Mutter als Stigma. Eine ethnografische Recherche in Indien. In Andrea Abraham, Sabine Bitter & Rita Kesselring (Hrsg.), Mutter unbekannt. Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau, 1973–2002 (S. 53-74). Chronos. Hier S. 56.] so:

«Es gab kein Unterstützungssystem für sie. Und abgesehen vom System: Die Familie selbst hat sie nicht unterstützt. Es gab eine Menge Gewalt. Keine mentale Unterstützung. Kein Einfühlungsvermögen. Sehr grausam. Es herrschten ausgeprägte Moralvorstellungen. Unverheiratete Mütter konnten nicht allein Mutter werden.»

Diese Stigmatisierung hängt im indischen Kontext der 1970er bis frühen 2000er Jahre mit gesellschaftlichen, patriarchal geprägten Normen rund um die weibliche Sexualität, Ehe und Mutterschaft zusammen.

1970er bis 2000er Jahre: Weibliche Sexualität findet in der Ehe statt

Patriarchale Strukturen drücken sich in Indien u.a. durch stereotype Geschlechterrollen aus. Aus dieser Perspektive kommt dem weiblichen Körper als Instrument der Reproduktion und der Weiterführung der männlichen Vererbungslinie eine verantwortungsvolle Rolle zu: Er kann das Fortbestehen von Familie ermöglichen oder stören. Wegen dieser Ambivalenz sollen die Verhaltensweisen von Frauen begrenzt und kontrolliert werden, so beispielweise durch räumliche Absonderung oder frühe Verheiratung.[FN6 Chanana, Karuna (2001). Hinduism and Female Sexuality: Social Control and Education of Girls in India. Sociological Bulletin, 50(1), 37–63.] Aus dem altindischen Text Manusmriti wird abgeleitet, dass die weibliche Sexualität einzig innerhalb der Ehe stattfinden sollte und dem primären Zweck der Fortpflanzung diente.[FN7 Abraham, Kochurani (2019). Persisting Patriarchy: Intersectionalities, Negotiations, Subversions. New Approaches to Religion and Power. palgrave macmillan. In Bezugnahme auf Bandyopadhyay, Sekhar (2004). Caste, Culture and Hegemony: Social Dominance in Colonial Bengal. Sage. / N.M. Naseera und Moly Kuruvilla (2022). The Sexual Politics of the Manusmriti: A Critical Analysis with Sexual and Reproductive Health Rights Perspectives. Journal of International Women’s Studies, 23(6), Art. 3.]

Auch wenn es ab der Unabhängigkeit Indiens 1947 zu ausgeprägten indisch-feministischen Bewegungen und Errungenschaften kam, dominierten diese altindischen Grundsätze auch Jahrzehnte später den häuslichen Bereich und intime Beziehungen noch immer.[FN8 Bardhan, Kalpana (1991). Women and feminism in a stratified society. Recent developments in India. In Sally M. Sutherland (Hrsg.), Bridging Worlds. Studies on Women in South Asia (S. 163–201). University of California.] Diese blieben von patrilinealen Zugehörigkeits- und Vererbungslinien und der sogenannten Patrilokalität[FN9 Patrilokalität bedeutet, dass Frauen nach der Heirat in das Familiensystem des Ehemannes ziehen und sich in dessen Strukturen einfügen. Manche indischen Bevölkerungsgruppen orientieren sich an egalitären oder gar matriarchalen Geschlechterverhältnissen, so z.B. Angehörige der Nair Kaste im südindischen Bundesstaat Kerala.] geprägt. Dabei wurde die weibliche Existenz immer in Relation zu einem Mann gesehen: als Tochter, als Ehefrau oder als Mutter.[FN10 Mehta, Rama (1987). Socio-legal status of women in India. Mittal Publications.]

Wie stark die weibliche Identität an männlich-dominierte Strukturen geknüpft war, zeigt sich am Beispiel von verwitweten Frauen. Sie wurden auf Hindi beispielsweise als «Prani» bezeichnet: als Kreatur. Der Status als Mensch war ihnen nur in der Präsenz ihres Ehemannes zugefallen. Sie waren gewissermassen sein «Eigentum». Nach seinem Tod hingegen galten sie als eine «sozial tote Einheit», die ausgeschlossen wurde.[FN11 Khanna, Meera (2012). Widowhood in India: Trauma of Taboos and Tribulations. In Mohini Giri (Hrsg.), Living Death. Trauma of Widowhood in India (S. 19–49). Gyan Books. Hier S. 38, 91.]

Normative Vorgaben für das Muttersein

Zahlreiche indische Feministinnen, Autor*innen, Kunstschaffende und Filmemacher*innen (Alleinstehende Mütter als filmische und literarische Motive ) setzten sich seit der Unabhängigkeit Indiens mit den Normen auseinander, welche Mutterschaft in ihrer Gesellschaft prägen. Sie kämpften und kämpfen dafür,  

  • dass Muttersein nicht als die primäre Identität einer Frau gesehen wird.
  • dass Frauen auch ausserhalb eines Eheverhältnisses Mütter werden und bleiben können.
  • dass Kinderlosigkeit in einer Ehe akzeptiert wird.
  • dass das Geschlecht des Kindes keine Rolle spielt.

Diesen Visionen stand in den 1970er bis frühen 2000er Jahren eine andere Realität gegenüber. Für die meisten Frauen stand ihre uneheliche Mutterschaft quer zu den normativen Erwartungen an eine weibliche Biografie. Kaum eine uneheliche Mutter konnte ihr Kind behalten, es sei denn, dass sich ihr zukünftiger Ehemann oder ihre Eltern dazu bereit erklärten. Für die meisten Frauen gab es nur die Möglichkeit, sich von ihrem Kind zu trennen: durch Abtreibung, Infantizid (Kindestötung)[FN12 1991 wurde als Reaktion auf die hohe Rate an Infantiziden (insbesondere die Tötung von weiblichen Neugeborenen) in Tamil Nadu das «Cradle Baby Scheme» etabliert und später von weiteren indischen Bundestaaten übernommen. Es handelte sich dabei um ein Präventionsprogramm. Eltern hatten die Möglichkeit, ihre Kinder anonym in Institutionen abzugeben, welche die Kinder zur Adoption vermittelten.], Aussetzung oder eben die Weggabe zur Adoption.

Wie das Leben von Mona weiterging, wird im India Today Artikel nur angedeutet: Wegen dem Stigma ihrer unehelichen Schwangerschaft konnte sie nicht mehr in ihre Herkunftsfamilie zurückkehren. Aus diesem Grund arbeitete sie fortan im Shelter, dem Ort der Trennung von Müttern und ihren Kindern. Ihr eigenes Kind sah sie nie wieder.